Hörspiel in drei Teilen

Manhattan Transfer

Stand

Das epochale Großstadtpanorama von John Dos Passos als Hörspiel

"Wenn New York einem schal und langweilig erscheint, ist das Schreckliche daran die Tatsache, dass man nirgendwo anders hinkann. New York ist die Spitze, der Gipfel der Welt. Hier können wir immer nur im Kreis laufen wie ein Hamster im Käfig", schreibt John Dos Passos in seinem legendären Großstadtroman "Manhattan Transfer".

Dos Passos richtet den Fokus auf das New York von 1898 bis zu den Anfängen der 1920er Jahre. Es ist die Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg, in der sich die Menschen in der sich rasant entwickelnden Metropole neu orientieren müssen. Elektrische Beleuchtung, Autos, Maschinen, U-Bahnen, Hochhäuser, die aufkommende Broadway-Unterhaltungsindustrie und zugleich Traditionsverlust und soziale Konflikte prägen diese neue Zeit.

Mit 50 Sprechern und einem eigens komponierten Sound lässt das Hörspiel die Atemlosigkeit und den Existenzkampf im Dschungel der modernen Großstadt wieder lebendig werden.

Star-Ensemble mit Maren Eggert, Ulrich Noethen, Ulrich Matthes u.a.

Nur wenigen von den über hundert Figuren seines Romans folgt Dos Passos durchgehend über die gesamte Zeitspanne: darunter ein Zeitungsjournalist (Max von Pufendorf), ein schwarzer Einwanderer (Marc Hosemann), ein korrupter Gewerkschaftsführer (Milan Peschel), ein skrupelloser Jurist (Ullrich Matthes), zwei Schauspieler (Ulrich Noethen und Johann von Bülow), eine sich emanzipierende Frau (Maren Eggert) oder ein Kriegsheimkehrer, der sich zum Gangster wandelt (Axel Prahl).

Die literarische Komplexität im Hörspiel erhalten

"Teile des Romans mussten wir neu strukturieren, Nebenmotive weglassen und Abläufe verdichten. Das ist bei einem derart vielstimmigen Roman wie 'Manhattan Transfer' mit seinen unzähligen parallel geführten Figurenbiografien eine große Herausforderung. Natürlich soll der Roman auch in seiner literarischen Komplexität bestehen bleiben! Ein heikler Drahtseilakt, der von der ersten Lektüre bis zum finalen Schnitt immer in Bewegung bleibt", sagt Hörspielregisseur Leonhard Koppelmann.

Gespräch mit Dos-Passos-Übersetzer Dirk van Gunsteren

Dirk van Gunsteren wurde 1953 in Düsseldorf als Sohn niederländischer Eltern geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach dem Abitur unternahm er mehrere längere Reisen durch Indien, Großbritannien und die USA und studierte Amerikanistik, Geschichte und Deutsch als Fremdsprache.

Seit 1984 arbeitet er als Übersetzer aus dem Englischen. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören T.C. Boyle, Peter Carey, Jonathan Safran Foer, John Irving, V.S. Naipaul, Thomas Pynchon, Philip Roth und Oliver Sacks. 2007 wurde er mit dem Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet. Er lebt in München.

Wann haben Sie "Manhattan Transfer" zum ersten Mal gelesen?

Mit zwanzig, kurz nach dem Abitur. Es war eine zerlesene englische Taschenbuchausgabe, die ich auf einem griechischen Flohmarkt gefunden hatte. Der Titel hatte mein Interesse geweckt, und der Einstieg war verheißungsvoll. Da gab es keine langatmigen meteorologischen Erörterungen, keine umständliche Einführung von Protagonisten, statt dessen: Totale (Stadt im Morgenlicht) - Zoom auf Hafen und Fährboot (Menschenmassen strömen durch das Fährhaus in die Straßen) - Schnitt: Entbindungsstation (ein Neugeborenes wird versorgt) - Schnitt: Fährboot (Gespräche zwischen Passagieren) - Schnitt: Entbindungsstation, usw.

Das war großartig und in seiner Direktheit überwältigend, eher ein Film als ein Buch. Als hätte das geschriebene, gelesene Wort plötzlich eine neue Dimension bekommen. Ich war zum ersten Mal nicht nur vom Inhalt eines Buches überwältigt, sondern auch von seiner Form, von der Art des Erzählens: Dass es möglich war, so zu schreiben!

Es war ein Vorgeschmack auf das Gefühl, das sich ein paar Jahre später einstellte, als ich zum ersten Mal Thomas Pynchons "Gravity's Rainbow" las. Mit diesen beiden Büchern begann meine Liebe zur amerikanischen Literatur.

Hat sich bei jetzt beruflicher Lektüre die Faszination von Dos Passos erhalten? 

Natürlich ist man erleichtert und berührt, wenn man sich dem Objekt seiner ersten Liebe zuwendet und feststellt, dass es in Würde gealtert ist und nichts von seiner Schönheit verloren hat. Gewisse Schreibweisen, Wendungen und Konventionen des amerikanischen Originals sind heute nicht mehr gebräuchlich, und doch ist nichts an diesem Buch antiquiert. Es wirkt so frisch und unmittelbar wie vor neunzig Jahren.

Was hat eine Neuübersetzung dieses Klassikers notwendig gemacht? 

Die erste deutsche Übersetzung von Paul Baudisch erschien 1927, das heißt zwei Jahre nach dem Original, was für die damalige Zeit ein enormes Tempo war und ein Beweis für die Wirkungskraft von "Manhattan Transfer". Paul Baudisch war ein fleißiger und erfahrener Übersetzer, der viele Bücher bekannter Autoren übersetzt hat, und ich muss allem, was ich über ihn und seine Übersetzung sage, vorausschicken: Ich ziehe meinen Hut vor seiner Leistung. In den 1920er Jahren gab es nur wenige brauchbare, zuverlässige zweisprachige Wörterbücher, und die Kenntnis amerikanischer Redeweisen und Realien war äußerst begrenzt.

"Manhattan Transfer" muss Baudisch vor große sprachliche Probleme gestellt haben, für die er teils bewundernswerte Lösungen gefunden hat. Die expressionistischen Passagen mit ihren Schilderungen des Großstadtgetümmels zum Beispiel sind ihm großartig gelungen. Hier und da aber hat Baudisch, wie es scheint, einfach inspiriert geraten und manchmal lag er total daneben. So kommt es dann, dass auf dem Broadway nicht eine Straßenbahn (surface car), sondern ein "Planwagen" unterwegs ist.

Slang und den Jargon der Unterschicht – und davon gibt es in "Manhattan Transfer" eine Menge – beherrschte er auch im Deutschen nicht, wofür ihm schon Kurt Tucholsky mal was auf die Tatzen gegeben hat. Bei ihm sprechen selbst harte Hafenarbeiter im Kasinoton ("Wie geht's, altes Haus?") und sagen Sätze wie: "Ich besitze keinen roten Heller."

Von den lexikalischen Fehlern und Irrtümern einmal abgesehen, ist es vor allem der altväterliche Duktus, der diese Übersetzung so furchtbar verstaubt wirken lässt und einem Werk dieses Ranges nicht angemessen ist.

Mit welchen Schwierigkeiten sahen Sie sich konfrontiert?

Eine kritische Ausgabe von "Manhattan Transfer" gibt es meines Wissens nicht, wohl aber eine annotierte Ausgabe in "The Library of America". Diese enthält allerdings dieselben orthografischen Fehler wie die Erstausgabe und hat einige neue hinzugefügt. Auch die Anmerkungen waren nicht immer hilfreich, bzw. fehlten an entscheidenden Stellen.

So habe bei diesem Buch sehr viel mehr recherchiert als sonst – Personen, Gebäude, Verkehrsverbindungen und so weiter. Zum Glück ist die Geschichte New Yorks recht gut dokumentiert. Viele Zitate, Verweise und Anspielungen, die Baudisch entgangen waren, lassen sich heutzutage leichter finden und entschlüsseln.

Dos Passos' Werk gilt als Meisterwerk des modernen Romans. 1925 ist jedoch lange her. Wie lösten sie hier das alte Übersetzerproblem "traductore – traitore", um ihn historisch korrekt zu verorten, aber eben in ein zeitgemäßes Deutsch zu übertragen?

Dos Passos' Sprache ist, ebenso wie die Dinge, die er behandelt, überaus modern, in den deskriptiven Passagen geradezu zeitgenössisch. Das Zeitkolorit ergibt sich hauptsächlich aus den geschilderten Szenen und Vorgängen: Straßenbahnen und Pferdefuhrwerke rasseln durch Manhattan und verschwinden im Lauf der Handlung, die großen Wolkenkratzer, die heute die New Yorker Skyline bestimmen, werden gerade erst gebaut, und im Hafen sind Dampfschiffe unterwegs.

Ich habe mich bemüht, einen Ton zu treffen, der für den heutigen Leser 'natürlich' klingt ohne den Zeitbezug auf die 1920er Jahre zu leugnen. Und bin mir bewusst, dass meine Übersetzung irgendwann vermutlich aus eben diesem Grund veraltet klingen wird. Sehr knifflig waren die rasanten Wechsel: von einer atemlosen, kaleidoskopischen Schilderung des Molochs Großstadt zu einem reflexiven, assoziationsgesteuerten inneren Monolog, von einer Versammlung streikender Arbeiter zu einem höflichen Geplauder im Club. "Manhattan Transfer" stellt enorme Anforderungen an das Ohr und die sprachliche Bandbreite des Übersetzers.

Nach welchen Überlegungen haben Sie die Inserts oder Songtexte übersetzt? 

Dos Passos setzt Gedichtzeilen oder Songtexte oft als Kommentar zum Geschehen ein, das heißt ihre Bedeutung trägt zum Verständnis der entsprechenden Szenen bei, und daher habe ich sie in der Regel übersetzt. Darüber, ob das bei Klassikern wie Somebody Loves Me wirklich nötig gewesen wäre, ließe sich diskutieren.

Zum Abschluss eine persönliche Frage: Wie sieht Ihr Arbeitsalltag als Übersetzer aus? 

Ich taste mich langsam in ein Buch hinein, suche nach seinem spezifischen Ton und probiere dies und das. In der Anfangsphase schaffe ich nur ein paar Normseiten (1800 Zeichen) am Tag. Sobald ich den Ton gefunden habe, geht es schneller, und ich setze mir ein Tagespensum, normalerweise etwa acht Seiten. Das dauert, mit den üblichen häuslichen Unterbrechungen, von etwa 9 Uhr bis etwa 18 Uhr.

So gesehen wäre ich als Angestellter vielleicht besser dran, ganz zu schweigen von bezahltem Urlaub und so weiter. Aber dafür habe ich eine Arbeit, die ich liebe, und keinen Vorgesetzten, der mir in den Nacken schnauft. 

Die Vorgeschichte der Hörspielproduktion Manhattan Transfer

Die Vorgeschichte dieser Hörspielproduktion reicht zurück bis ins Jahr 2011. Nach "Die Geschichte des Franz Biberkopf" (2007, nach "Berlin Alexanderplatz" von Alfred Döblin) und "Ulysses" (2012, nach James Joyce) sollte "Manhattan Transfer" von John Dos Passos für das Hörspiel adaptiert werden. Der 1925 erschienene New York-Roman gilt als wichtiger Bezugspunkt von Döblins Werk und Dos Passos gehört wie Joyce zu den Vätern modernen Erzählens. Ein kleiner Kreis schlösse sich.

Der amerikanische Schriftsteller John Roderigo Dos Passos (undatiertes Archivbild) (Foto: picture-alliance / dpa, picture-alliance / dpa -)
Der amerikanische Schriftsteller John Roderigo Dos Passos war auf dem Gebiet des experimentellen Romans wegweisend für die Literatur in den Vereinigten Staaten nach dem Ersten Weltkrieg.

Die Stadt New York ist der Protagonist des Romans

"Manhattan Transfer" wird als der erster Großstadtroman angesehen, der sich innovativer, unter anderem am Film orientierter Erzähltechniken in der Schilderung moderner Gesellschafts- und Wirklichkeitserfahrung bedient. Ein Meisterwerk, das New York zwischen 1896 und 1924 zum Thema hat.

In Deutschland wurde der Roman bis in den 1980er-Jahre intensiv rezipiert, mittlerweile führt er hingegen eine Art Schattendasein in literarischen Diskussionen. Viele kennen den Titel, kaum einer scheint ihn noch zu lesen.

Dabei ist der Roman politisch radikal, nutzt die Technik der Collage und eine multiperspektivische Short-Cuts-Ästhetik und passt damit in eine Zeit postmodernen Erzählens. Die Überlegung, einen großen Roman akustisch umzusetzen, korrespondierte so mit dem pädagogisch motivierten Bildungsanspruch einer kleinen Wiederentdeckung durch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten.

Die Verwandlung von Literatur in Hörspiel

Für die Realsierung wurden Leonhard Koppelmann und Hermann Kretzschmar gewonnen, ein erprobtes Team, wenn literarische Werke eine text- wie musikdramatische Aneignung verlangen. Auch für die Bearbeitung schien diese Kombination sinnvoll. Beide hatten bereits erfolgreich Thomas Manns "Doktor Faustus", ein ebenfalls als schwierig angesehener Roman, für das Hörspiel realisiert.

Leonhard Koppelmann (Foto: SWR, SWR - Monika Maier)
Leonhard Koppelmann

Koppelmann hat mit seinen Theaterregien wie "Pension Schöller" oder "Die drei Musketiere" und seinen Hörspielfassungen im Krimigenre eine Handschrift entwickelt, die kunstfertig Spannungs- und Unterhaltungselemente bei der akustischen Umsetzung von literarischen Vorlagen, etwa Michel Houellebecqs "Unterwerfung" (SWR 2015) herausarbeitet.

Hermann Kretzschmar (Foto: SWR, SWR - Monika Maier)
Hermann Kretzschmar

Kretzschmar orientiert sich mit seinen eigenen Hörspielen (beispielweise nach John Cage/Hermann Hesse, Georg Büchner, Marcel Proust oder den biblischen Psalmen) und seiner Arbeit als Mitglied des renommierten Ensemble Modern an der Wahrung und Umsetzung des Komplexitätsanspruchs von Werken der sogenannten "Hochkultur". Genau zwischen diesen beiden Polen bewegt sich auch "Manhattan Transfer".

Der Roman ist nicht gealtert. Dos Passos' Sprache und seine Erzählweise faszinieren und der Stoff des Romans wirkt aktuell. Warum ist er so gut wie vergessen? Es geht doch um New York in der legendenumwobenen Zeit zwischen 1900 und 1924!

Die Stadt wird bei Dos Passos zum Brennglas für die historische Entwicklung des modernen Kapitalismus und der damit verbundenen veränderten Wirklichkeitserfahrung. New York ist dabei die Stadt, die für viele Menschen Glücksversprechen und Hoffnung auffressender Moloch ist. Das gilt auch noch für Metropolen von heute.

Die Handlung bewegt sich entlang der Themen Broadway-Unterhaltungsindustrie, Migration, Politik, Geld, Klassenkampf, Armut, Frauenrechte, Abtreibung, Homosexualität. Das Zeitkolorit wird indirekt über eine Collage aus Historie spiegelnden Zeitungsmeldungen, Songs, infrastrukturellem und technischem Wandel vermittelt – vom Pferdefuhrwerk, Auto, Telefon bis zum Bau der Underground und der Wolkenkratzer .

Unter den Figuren finden sich beispielsweise ein schwarzer französischer Einwanderer, der zum Prohibitionsgewinnler wird; ein Milchmann, der sich zum korrupten Gewerkschaftsführer wandelt; ein karrierebewusster Jurist; eine sich emanzipierende Frau aus dem Kleinbürgertum, die sich in der Broadway-Boheme zu verwirklichen sucht; ein vor der Härte des Landlebens fliehender Farmerssohn; ein junger Journalist aus gutem Hause, der seine Illusionen verliert; ein Kriegsheimkehrer, der zum Gangster wird et cetera. Der Roman beleuchtet sie schlaglichtartig – und ein Panorama städtischen Lebens entsteht.

Moderne Erzähltechniken, die dem Film verwandt sind

Dos Passos' Sprache und seine Erzählweise faszinieren. Coolness und suggestive Bildkraft prägen das Buch. Vor allem bieten sich die spannenden dramatischen Stories und die dialogischen Szenen für eine akustische Umsetzung geradezu an – als ob der Roman eine über mehrere Erzählstränge verlaufende Netflix-Serie wäre, die auf hohem Niveau dem Prinzip des ausschweifenden Erzählens folgt. Diese Merkmale verknüpft Dos Passos mit dem radikalen Kunstanspruch der literarischen Avantgarde der 1920-er Moderne. Was will man mehr?

Notwendigkeit einer Neuübersetzung

Aber: Die Übersetzung von Paul Baudisch aus dem Jahr 1927 überzeugt nicht mehr. Sie hat Qualitäten, ohne Zweifel, ist aber größtenteils altbacken und vielfach fehlerhaft. Dazu folgt sie Entscheidungen, die nicht mehr heutigen Übersetzungsstandards entsprechen. So reden die Figuren im Gegensatz zum Original in papierener Sprache und unabhängig von ihrer sozialen Stand oder im Berliner Dialekt, wenn es um die Kennzeichnung regionaler Herkunft geht.

Schnell stand fest: Das Projekt sollte so lange verschoben werden, bis eine neue Übersetzung vorläge. Dafür brauchte der SWR Kooperationspartner. Bei Rowohlt, dem Verlag der Übersetzung von Paul Baudisch, war für die nahe Zukunft eine Neuübersetzung nicht vorgesehen.

Als erster Schritt wurde der Kontakt mit den Erben in den USA gesucht, um die Stoffrechte zu erwerben, die an eine Neuübersetzung geknüpft sein sollten. Sie reagierten anfänglich zurückhaltend. Trotz Orson Welles ist Hörspiel in den USA vielfach "terra incognita".

Die "Wiederentdeckung" von Manhattan Transfer

So wurde das Gesamtpaket einer "Wiederentdeckung" von Manhattan Transfer entwickelt: Neuübersetzung des Romans, Sendung der Hörspielfassung durch den SWR und den Koproduzenten Deutschlandfunk, CD-Edition des Hörspiels bei Hörbuch Hamburg. Die drei Rezeptionswege Buch, Radio, Hörbuch nehmen sich überdies nicht, wie neueste Nutzeranalysen aussagen, ihr Publikum. Im Gegenteil.

Rowohlt, Hörbuch Hamburg und SWR waren sich einig, das Projekt an ein möglichst zeitnahes Senden/Veröffentlichen zu binden, damit es auch publizistisch breit gestreut werden könne. Der renommierte Übersetzer Dirk van Gunsteren, der sich mit Übertragungen von Thomas Pynchon oder T.S. Boyle einen Namen gemacht hat, wurde über das Vorhaben informiert.

Nach einigem, gelegentlich entmutigendem Hin und Her stimmten die Dos-Passos-Erben endlich nach Weihnachten 2013 zu. Die Verträge waren zu entwerfen, die Termine zwischen Sendern und Verlagen abzustimmen und das begehrte Realisierungsteam erneut anzufragen. Dirk van Gunsteren machte sich an die Arbeit, Ende 2014 lagen die ersten Fahnen vor, die Text-Bearbeitung konnte beginnen.

Die Hörspielfassung stand unter dem Zeichen: Kein Wort, das nicht von Dos Passos / van Gunsteren stammt. Nichts wird hinzuerfunden. Die dreiteilige Struktur des Romans ist zu übernehmen.

Der Roman umfasst die Zeit von 1896 bis 1924

Der erste Teil deckt als erzählte Zeit die Jahre von 1896, als in New York der Zusammenschluss der Bezirke mit Gov. Morton eingeleitet wird, der dann zwei Jahre später die Stadt zur zweitgrößten Metropole der Welt katapultiert, bis 1905 ab, dem Jahr des verlustreichen russisch-japanischen Krieges.

Der zweite Teil konzentriert sich auf die Jahre von 1913 bis 1916, als der Erste Weltkrieg in Europa ausbricht, die demokratische USA noch neutral bleiben, aber sich schon aufmachen, zum Zentrum des Kapitalismus und der Unterhaltungsindustrie zu werden.

Der dritte Teil beginnt 1918, als die amerikanischen Soldaten von Europa heimkehren, und endet Anfang 1924 mit den "roaring twenties", der wirtschaftlichen Depression und der Welle von  Gewaltverbrechen. Es ist nicht unwesentlich, dass der Roman in der Figur von Jimmy Herf ein Porträt der amerikanischen "lost generation" zeichnet.

Als New York, Inbegriff der Utopien Amerikas, endlich die Welt bestimmt, machen sich viele Seinesgleichen, desillusioniert von ihrer "durchkapitalisierten" Heimat, auf den Weg ins "alte", "humane", "liberale" und nach dem Ersten Weltkrieg neue demokratische Europa. Sie gingen nach Paris und Berlin. Jimmy Herf verlässt am Ende des Romans New York, um woanders einen neuen "Lebensgrund" zu suchen.

Im Hörspiel kann man nicht zurückblättern

Hörspiel muss nach seinen eigenen ästhetischen Gesetzen funktionieren. Der Verweis auf den Originalstoff ist eine Frage der Quellenangabe und der Referenz. Anderseits ist damit immer die Aufgabe verbunden, die Transferleistung ins andere Erzählmedium stimmig zu gestalten. Diesen Drahtseilakt gilt es auszubalancieren. Akustisches Erzählen, wenn es trotz aller Modernität an Handlungslinien und Figuren orientiert bleiben soll, bedarf  – ähnlich wie im Film – einer Orientierung, es kennt kein Zurückblättern und Innehalten.

Dos Passos' Figuren, über 100 an der Zahl, verzweigen sich oftmals, ihre Wege brechen abrupt ab und verlieren sich. Es wird in großen Zeitsprüngen erzählt und der Autor versucht Simultanität von Geschehnissen einzufangen. Schließlich ist die Stadt der Protagonist.

Notwendig war also eine Beschränkung auf wenige Hauptfiguren, denen der Hörer über die gut 25 Jahren folgt. Kürzungen wie schmerzhafte Streichungen auch wichtiger paralleler Handlungsstränge wurden vereinbart, um die Geschichten engmaschiger als im Original zu vernetzen und voranzutreiben. Anderseits stand auch fest, dass die Erzählerblöcke in der von Montageprinzip und starker Metaphorik bestimmten Sprache beibehalten werden müssten.

SWR2 HÖRSPIEL AM SONNTAG, "Manhattan Transfer", Hörspiel in 3 Teilen nach dem gleichnamigen Roman von John Dos Passos (Foto: SWR, SWR/Stefan Kolbe -)
V.l.n.r.: Andreas Pietschmann, Maren Eggert, Ulrich Matthes, Leonhard Koppelmann, Max von Pufendorf.

So ist die vorliegende Hörspielfassung, angelegt auf drei ca. 100-minütige oder je nach Sendungsmöglichkeiten anders zu formatierende Teile. Es ist der Versuch, in der Sprache von Dos Passos den Stoff seinen Romans als Hörspiel über die Geschichte New Yorks zwischen 1896 und 1924  zu erzählen. Wer kein Hörspiel sondern den Roman erwartet, wer reine Literatur bevorzugt, für den gibt es den Roman "Manhattan Transfer" in der neuen Übersetzung. Wie der Film so hat das Hörspiel als Kunstform seine eigene ästhetische Wirklichkeit. Für "Manhattan Transfer" sei empfohlen: hören und lesen, lesen und hören.

Nachtrag zur Ursendung

Künstlerische Arbeiten haben die Tendenz, sich von festen Vorgaben zu emanzipieren. Die Studioarbeit ging bis kurz vor Abgabetermin. So waren am Ende die Teile des Hörspiels etwas länger als ursprünglich durch die Sendeplanung vorgegeben.

Die Ursendungen des Hörspiels bei SWR und DLF sind eine leicht gekürzte Version. Für die spätere Wiederholung im Programm ist der "Director's Cut", also die ungekürzte Version vorgesehen. "Manhattan Transfer" ist somit, als Nebeneffekt, auch als Produktionsvermögen der Sender in verschiedenen Sendekontexten einsetzbar – bis hin zu einer sechsteiligen Fassung von unter 60 Minuten.

Ähnlich wie bei der SWR/DLF Hörspielproduktion des "Ulysses" nach James Joyce ermöglichen die Kulturwellen der öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten immer noch, Kulturgüter zu produzieren, die über die vielfach notwendige Vorgabe einer zeitlich festgelegten, also formatierten Sendestrecke im Radio hinausgehen. Jede Version des Hörspiels folgt dabei einer eigenen Logik, hat ihr eigenes Recht, ihren eigenen Reiz und ihre eigene künstlerische Qualität. Diese Varianz in den Hörspielfassungen widerspricht nicht dem Roman "Manhattan Transfer", der gerade die Fokussierung auf verschiedene Handlungsstränge zulässt.

SWR2 Hörspiel am Sonntag extra John Dos Passos: Manhattan Transfer | Epochales Großstadtpanorama

"Manhattan Transfer" schildert die Geschichte von New York City zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Jon Dos Passos erzählt in Zeitsprüngen und über die Jahre hinweg u. a. von technischem Fortschritt, dem Kampf um sexuelle Freizügigkeit und Frauenrechte, Geld und politischer Macht.

SWR2 Hörspiel am Sonntag extra SWR2

Der amerikanische Schriftsteller John Roderigo Dos Passos (undatiertes Archivbild) (Foto: picture-alliance / dpa, picture-alliance / dpa -)

"Manhattan Transfer" Der Metropolenroman von John Dos Passos

Mit "Manhattan Transfer" veröffentlichte der US-amerikanische Schriftsteller John Dos Passos 1925 einen Roman, der so neu, innovativ und überraschend war wie die Stadt selbst.

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