Kino

„Wir sind dann wohl die Angehörigen": Kammerspiel zum Entführungsdrama Jan Philipp Reemtsma

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AUTOR/IN
Rüdiger Suchsland

Mitten in der Nacht wird Johann von seiner Mutter geweckt: Sein Vater, der Multimillionär Jan Philipp Reemtsma wurde entführt. Schlagartig füllen Polizisten, Anwälte und Freunde der Familie das Haus. Zum ersten Mal in seinem Leben empfindet Johann so etwas wie Angst. Die Ungewissheit ist nun sein täglicher Begleiter und die Tage scheinen endlos zu sein.

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Familie im Ausnahmezustand

Coming-of-Age, das Erwachsenwerden ist eines der beliebtesten Filmthemen. Denn es führt die Zuschauer auf eine universelle Erfahrung zurück: Wie sich das Kind im Menschen wandelt, wie man sich von den Eltern emanzipiert und ein unabhängiges, freies Subjekt wird. Aber ein Coming-of-Age wie dieses haben glücklicherweise nur die allerwenigsten erlebt, jedenfalls in den zivilisierten, behüteten Verhältnissen Europas.

 

20 Millionen D-Mark Lösegeld für den eigenen Vater

Die Hauptfigur ist ein 13-jähriger Junge, er heißt Johann. Zu Beginn des Films ist seine Welt noch in Ordnung: die Verhältnisse sind gut bürgerlich, er muss Latein für die Schule pauken, spielt in einer Rockband, und pubertiert. Eines Nachts ändert sich alles radikal: die Mutter weckt ihn, sein Vater, ein Wissenschaftler und Multimillionär, wurde entführt. Man fordert 20 Millionen D-Mark Lösegeld. Plötzlich ist für Johann nichts mehr wie es gerade noch war, Freiheit und Möglichkeiten verwandeln sich in Angst und Sicherheitsbedürfnis.


Entführung aus der Perspektive des 13-jährigen Sohns erzählt

Es sind diese existenziellen Veränderungen, die im Mittelpunkt des Films von Hans-Christian Schmid stehen. „Wir sind dann wohl die Angehörigen" basiert auf Ereignissen rund um die Entführung des Wissenschaftlers, Autors und Multimillionärs Jan Philipp Reemtsma im Jahr 1996 und auf dem autobiografischen Roman seines Sohnes Johann Scheerer, der dessen Erinnerungen poetisch aufbereitet. Erzählt wird größtenteils aus der Perspektive des damals 13-jährigen. Um dessen vertraute Umgebung formieren sich neue fast familienähnliche Strukturen aus fremden Menschen.

Kammerspiel mit zurückhaltender Perspektive

Hans-Christian Schmids erster Kinofilm seit zehn Jahren erzählt von diesem speziellen Coming-of-Age auf sehr intime Weise. Dies ist kein Thriller oder Entführungsdrama, sondern ein Kammerspiel. Gedämpfte Töne, sparsame Kamerafahrten und Dialoge herrschen vor, es geht ums Atmosphärische. Auch die Kritik an den zum Teil haarsträubend dilettantischen Fehlern der Polizei ist zurückhaltend, sozusagen hanseatisch höflich formuliert. Im Rückblick erscheint auch die Welt der 1990er Jahre schon ungemein weit weg: Eine Welt der Faxgeräte und Papierkarten, ohne Mobilphone, Internet und GoogleMaps.

 Routinierte und etwas langweilige Regie von Hans-Christian Schmid

Das ist in jedem Fall routiniert inszeniert, mitunter spannend, mitunter aber auch etwas langweilig. Zumal der Ausgang der Entführung zumindest den normal informierten Zeitgenossen bekannt sein sollte. Schmid erzählt eine in jeder Hinsicht ungewöhnliche Geschichte.

Mitunter aber fallen einem andere Geschichten ein, die in dieser verboren sind, die Schmid nicht erzählt: Über Macht und Übermacht der Väter und die Fixierung der Söhne auf ihre Väter zum Beispiel. Oder über die Unmöglichkeit von Normalität in Verhältnissen, in denen man einerseits durch brutale gnadenlose Entführer gefährdet ist, und anderseits dann immerhin 30 Millionen Mark aufbringen kann, um sein Leben zu retten. 

Trailer „Wir sind dann wohl die Angehörigen", ab 3.11. im Kino

Das Buch, das Jan Philipp Reemtsma über seine Entführung geschrieben hat

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Rüdiger Suchsland