Für die Kinodoku „Die Super-8-Jahre“ hat die französische Autorin Annie Ernaux alte Familienfilme ausgegraben. Gemeinsam mit ihrem Sohn hat sie die Aufnahmen zu einem Film über sich und das linke bürgerliche Milieu der 70er Jahre montiert und mit einem aktuellen Kommentar versehen. Ein intimer Einblick ins Familienarchiv der Literatur- Nobelpreisträgerin.
Familienleben auf Super-8: von der Lehrerin zur Schriftstellerin
Zwei kleine Jungs hüpfen begeistert vor der Kamera auf und ab. Ihre Großmutter räumt in Kittelschürze die Küche auf. Annie Ernaux selbst, zu dem Zeitpunkt noch Lehrerin, sitzt am Schreibtisch und lächelt ein bisschen ertappt in die Kamera. Korrigiert sie Arbeiten oder schreibt sie schon heimlich an ihrem ersten Roman?
1972 kauft sich das Ehepaar Philippe und Annie Ernaux eine Super-8- Kamera, um die glücklichen Momente der jungen Familie einzufangen. Neun Jahre lang wird die Kamera zum ständigen Begleiter. Von den glücklichen Momenten gibt es allerdings bald schon gar nicht mehr so viele. Die Ehe läuft schlecht. Ernaux hat das Gefühl, mit ihrem brennenden Wunsch Schriftstellerin zu werden, sowohl ihre Herkunft aus der Arbeiterklasse zu verraten als auch die Wertvorstellungen ihrer kleinen Familie, die sich gerade so stolz in der Mittelschicht eingerichtet hat.

Filmkommentar erinert an Ernaux autofiktionale Romane
Annie Ernaux realisierte die einstündige Doku „Die Super- 8-Jahre“ zusammen mit ihrem Sohn David Ernaux-Briot. Über die stummen Kameraaufnahmen legt die 82-jährige Autorin einen selbst eingesprochenen Kommentar, dessen präzise Sprache an den Stil ihrer autofiktionalen Romane erinnert.
Das Verfahren ist das gleiche: Indem sie die eigene Familie betrachtet, entwirft sie zugleich das Bild eines ganzen Milieus. Wie eine Soziologin befragt sie die Einrichtung des Hauses, die Freizeitgestaltung, die Art, sich vor der Kamera in Szene zu setzen.
Und immer wieder nimmt sie das Kinopublikum mit auf die ungewöhnlichen Reisen, die sie mit ihrer Familie in den 70ern machte. Zum Beispiel nach Chile, wo sie das Engagement des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende für eine gerechte Gesellschaft beeindruckt, in die UdSSR oder ins abgeschottete kommunistische Albanien.

Ein kleiner, feiner Film der Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux
Die 70er erscheinen in dieser Doku rückblickend als eine unschuldige Zeit. Die grobkörnigen, wackeligen Bilder zeigen ein linkes bürgerliches Milieu, das noch nichts weiß von der Zerstörungskraft des Massentourismus, vom Klimawandel oder der Globalisierung. Zugleich erzählt Ernaux die Geschichte ihrer Emanzipation von den Rollenerwartungen an sie als Frau, Gattin und Mutter und den Prozess ihrer Schriftsteller-Werdung.
„Die Super 8 Jahre“ ist ein kleiner, feiner Film, der mit seiner leisen Melancholie zum Nachdenken über eigene Erinnerungen anregt. Oder vielleicht dazu, zwischen den Jahren selbst mal wieder die alten Super-8 Filme aus dem Keller zu holen.
Trailer „Die Super-8 Jahre“, ab 29.12. im KIno
Gespräch Literaturnobelpreis an Annie Ernaux: „In ihrem Werk findet sich keine antisemitische Stelle“
Sie ist die erste französische Autorin, die den Literaturnobelpreis erhält: Annie Ernaux. Vorab war sie für ihre Haltung zur BDS-Bewegung kritisiert worden. Eine Kritik, die die Literaturkritikerin Iris Radisch in dieser Härte nicht teilt: „Sie ist ganz sicher kritisch gegenüber der israelischen Regierung, aber sie würde niemals etwas Antisemitisches sagen.“
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Literaturredaktion, spricht über die besondere Kraft ihrer Texte und die Reaktionen in den Medien auf die Entscheidung für die diesjährige Literaturnobelpreisträgerin.
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