Kinodoku der Nobelpreisträgerin

Wehmütiger Blick ins Familienarchiv – „Die Super-8 Jahre“ von Annie Ernaux

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AUTOR/IN
Julia Haungs

Für die Kinodoku „Die Super-8-Jahre“ hat die französische Autorin Annie Ernaux alte Familienfilme ausgegraben. Gemeinsam mit ihrem Sohn hat sie die Aufnahmen zu einem Film über sich und das linke bürgerliche Milieu der 70er Jahre montiert und mit einem aktuellen Kommentar versehen. Ein intimer Einblick ins Familienarchiv der Literatur- Nobelpreisträgerin.

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Familienleben auf Super-8: von der Lehrerin zur Schriftstellerin

Zwei kleine Jungs hüpfen begeistert vor der Kamera auf und ab. Ihre Großmutter räumt in Kittelschürze die Küche auf. Annie Ernaux selbst, zu dem Zeitpunkt noch Lehrerin, sitzt am Schreibtisch und lächelt ein bisschen ertappt in die Kamera. Korrigiert sie Arbeiten oder schreibt sie schon heimlich an ihrem ersten Roman?

1972 kauft sich das Ehepaar Philippe und Annie Ernaux eine Super-8- Kamera, um die glücklichen Momente der jungen Familie einzufangen. Neun Jahre lang wird die Kamera zum ständigen Begleiter. Von den glücklichen Momenten gibt es allerdings bald schon gar nicht mehr so viele. Die Ehe läuft schlecht. Ernaux hat das Gefühl, mit ihrem brennenden Wunsch Schriftstellerin zu werden, sowohl ihre Herkunft aus der Arbeiterklasse zu verraten als auch die Wertvorstellungen ihrer kleinen Familie, die sich gerade so stolz in der Mittelschicht eingerichtet hat.

Filmstill (Foto: Les Films Pelléas )
„Annie Ernaux – Die Super-8-Jahre“ ist das feministische Dokument eines Aufbruchs einer jungen Frau, die am Anfang noch von der Kamera ihres Mannes beim verschämten Schreiben ertappt wird, weil sie als junge Mutter und Lehrerin andere Pflichten hat, als ihren Weg als Schriftstellerin zu suchen. Les Films Pelléas Bild in Detailansicht öffnen
„Ich wollte diese stillen Bilder in eine Geschichte einbinden, die die Vertrautheit mit dem Sozialen und der Geschichte kombiniert, um den Geschmack und die Farben dieser Jahre zu vermitteln.“ (Annie Ernaux) Les Films Pelléas Bild in Detailansicht öffnen
1972 kaufen sich die französische Schriftstellerin Annie Ernaux und ihr Ehemann Philippe eine Super-8-Kamera, die in der Folge, während 9 Jahren, ihr Leben aufzeichnen wird. Nicht nur Szenen einer jungen Familie, sondern auch Reisen an politisch außergewöhnliche Orte wie Chile, Albanien oder Russland werden dokumentiert. Les Films Pelléas Bild in Detailansicht öffnen
In ihrem ersten Film zeigt uns die über 80-jährige Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux zusammen mit ihrem Sohn David ihren „avant text“, den Vortext ihres Schreibens. Natürlich nicht ohne die Bilder in einer Weise zu kommentieren, wie es für fast alle ihrer literarischen Werke typisch ist. Les Films Pelléas Bild in Detailansicht öffnen
„Bei der erneuten Sichtung unserer Super-8-Filme, die zwischen 1972 und 1981 gedreht wurden, kam mir der Gedanke, dass sie nicht nur ein Familienarchiv, sondern auch ein Zeugnis für die Zeit, den Lebensstil und die Bestrebungen einer Gesellschaftsschicht im Jahrzehnt nach 1968 darstellen.“ (Annie Ernaux) Les Films Pelléas Bild in Detailansicht öffnen

Filmkommentar erinert an Ernaux autofiktionale Romane

Annie Ernaux realisierte die einstündige Doku „Die Super- 8-Jahre“ zusammen mit ihrem Sohn David Ernaux-Briot. Über die stummen Kameraaufnahmen legt die 82-jährige Autorin einen selbst eingesprochenen Kommentar, dessen präzise Sprache an den Stil ihrer autofiktionalen Romane erinnert.

Das Verfahren ist das gleiche: Indem sie die eigene Familie betrachtet, entwirft sie zugleich das Bild eines ganzen Milieus. Wie eine Soziologin befragt sie die Einrichtung des Hauses, die Freizeitgestaltung, die Art, sich vor der Kamera in Szene zu setzen.

Und immer wieder nimmt sie das Kinopublikum mit auf die ungewöhnlichen Reisen, die sie mit ihrer Familie in den 70ern machte. Zum Beispiel nach Chile, wo sie das Engagement des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende für eine gerechte Gesellschaft beeindruckt, in die UdSSR oder ins abgeschottete kommunistische Albanien. 

Filmstill (Foto: Les Films Pelléas )
„Hinter dem Bild der unscheinbaren jungen Mutter verbirgt sich eine Frau, die gequält war von dem Bedürfnis zu schreiben und davon, alle Ereignisse ihres Lebens zu einem gewalttätigen Roman zu verarbeiten.“ (Annie Ernaux )   Les Films Pelléas

Ein kleiner, feiner Film der Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux

 Die 70er erscheinen in dieser Doku rückblickend als eine unschuldige Zeit. Die grobkörnigen, wackeligen Bilder zeigen ein linkes bürgerliches Milieu, das noch nichts weiß von der Zerstörungskraft des Massentourismus, vom Klimawandel oder der Globalisierung. Zugleich erzählt Ernaux die Geschichte ihrer Emanzipation von den Rollenerwartungen an sie als Frau, Gattin und Mutter und den Prozess ihrer Schriftsteller-Werdung.

„Die Super 8 Jahre“ ist ein kleiner, feiner Film, der mit seiner leisen Melancholie zum Nachdenken über eigene Erinnerungen anregt. Oder vielleicht dazu, zwischen den Jahren selbst mal wieder die alten Super-8 Filme aus dem Keller zu holen.

Trailer „Die Super-8 Jahre“, ab 29.12. im KIno

Gespräch Literaturnobelpreis an Annie Ernaux: „In ihrem Werk findet sich keine antisemitische Stelle“

Sie ist die erste französische Autorin, die den Literaturnobelpreis erhält: Annie Ernaux. Vorab war sie für ihre Haltung zur BDS-Bewegung kritisiert worden. Eine Kritik, die die Literaturkritikerin Iris Radisch in dieser Härte nicht teilt: „Sie ist ganz sicher kritisch gegenüber der israelischen Regierung, aber sie würde niemals etwas Antisemitisches sagen.“

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Mehr über Annie Ernaux:

Hörbuch Präzise: Maren Kroymann liest „Das andere Mädchen“ von Annie Ernaux

Annie Ernaux schreibt einen Brief an ihre tote Schwester, an das Mädchen, das sie nie kennengelernt hat und das ihre Eltern vor ihr geheim gehalten haben, um sie zu schonen. Nun erkundet sie die Konsequenzen daraus für ihr eigenes Leben – gewohnt ehrlich und schonungslos. Maren Kroymann bringt den Text in ihrer Interpretation mit feinen Nuancen zur perfekten Entfaltung.

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Gespräch Wahrheitssuche mit den Mitteln der Literatur - Frank Hertweck über die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux

Schonungslos und mutig schreibt Annie Ernaux über sich und ihre Familie, über Scham, Schuld und Schmerz. Mit ihrem Werk hat sie die Tür zum autofiktionalen Schreiben aufgestoßen. Frank Hertweck, Leiter der SWR
Literaturredaktion, spricht über die besondere Kraft ihrer Texte und die Reaktionen in den Medien auf die Entscheidung für die diesjährige Literaturnobelpreisträgerin.

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Hörspiel Annie Ernaux: Erinnerung eines Mädchens

Der erste Sex als Spiel von Macht, Ohnmacht und Unterwerfung. | Nach dem gleichnamigen Buch von Annie Ernaux | Aus dem Französischen von Sonja Finck | Mit: Hedi Kriegeskotte, Anna Drexler, Peer Oscar Musinowski und Andrea Hörnke-Trieß | Hörspielbearbeitung und Regie: Irene Schuck | Produktion: SWR 2020

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