Das Schlingensief-Kollektiv
Sechs Kinder habe sich das Ehepaar Schlingensief gewünscht, aber nur eines bekommen, nämlich ihn, erzählt der Künstler im Film. Also musste er fortan sechs Kinder sein. Und in der Tat ist Christoph Schlingensiefs Werk so umfangreich und vielgestaltig, dass man das Gefühl hat, der Künstler sei in Wahrheit ein Kollektiv gewesen.

Thema „Deutschland“ als roter Faden in Schlingensiefs Werk
Um die gattungssprengenden Arbeiten des rastlosen Ideenumsetzers zwischen Bühne und öffentlichem Raum in eine Form zu bändigen, konzentriert sich Bettina Böhler in ihrer Doku auf Schlingensiefs Auseinandersetzung mit dem Thema „Deutschland“.
Ein roter Faden, der sich durch sein ganzes Schaffen zieht: von der Wende zu Lasten der Ostdeutschen, dem erstarkenden Rechtsradikalismus der 90er Jahre bis zur halbherzigen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Die erschreckende Erkenntnis: Veraltet ist an Schlingensiefs Arbeiten nichts.
Souveräner Umgang mit dem Material
Regisseurin Bettina Böhler kennt man bislang vor allem als ausgezeichnete Filmeditorin. Mehr als 80 Filme hat sie montiert, darunter alle von Christian Petzold und auch zwei Hauptwerke Schlingensiefs. Diese Expertise merkt man der Doku im souveränen Umgang mit der Fülle des Materials an.
Zur Verfügung gestellt hat es der Produzent Frieder Schlaich von der Berliner Filmgalerie 451. Seit dem „Deutschen Kettensägenmassaker“ hat er alle Filme Schlingensiefs herausgebracht und ein Archiv aufgebaut mit Mitschnitten von dessen Theaterarbeiten und Kunstperformances, Interviews und Talkshow-Auftritten.
Faible für Überblendungen stammt aus Schlingensiefs Kindheit
Hinzu kommen in der Doku private Super 8-Aufnahmen aus Schlingensiefs Kindheit, darunter sein erster eigener Film, für den er mit 10 Jahren die Kinder der Nachbarschaft herumscheuchte. Auch die Faszination für das Prinzip der Überblendung, das er in seinen Filmen so gerne nutzte, stammt aus der Kindheit, erzählt Schlingensief: seit sein Vater im Urlaub versehentlich den gleichen Film doppelt eingelegt hatte.
Doku als fiebriges, vielstimmiges Gesamtkunstwerk
Böhler nutzt das Stilmittel der Doppelbelichtung für ihre eigene Montage und verblendet private Aufnahmen, Filme, Theaterarbeiten und Interviews kunstvoll zu einem fiebrigen, vielstimmigen Gesamtkunstwerk. Die Liste der Künstler*innen, die man in Schlingensiefs Arbeiten sieht, ist beeindruckend lang und prominent. Als Interviewpartner*innen kommen sie allerdings nicht zu Wort.
„In das Schweigen hineinschreien“ nimmt eine konsequent subjektive Perspektive ein und überlässt Schlingensief die Deutungshoheit über sein Werk. Das macht die Doku mitreißend und berührend. Denn der Künstler ist ein selbstironischer, geistreicher und aufrichtiger Erzähler, der seine eigene Verletzlichkeit nicht versteckt.
Die Grenzen der Kunstfreiheit austesten
Am 21. August vor 10 Jahren ist Christoph Schlingensief gestorben. „In das Schweigen hineinschreien“ macht noch einmal bewusst, wie schmerzlich dieser zugleich hochpolitische und rasend komische Künstler fehlt: als jemand, der die Grenzen der Kunstfreiheit bis über die Schmerzgrenze austestete. Man hätte gerne gewusst, was ihm zu aktuellen Debatten um Nationalismus, Cancel Culture oder Corona-Verschwörungstheorien eingefallen wäre.