Sextipps von der netten Großmutter
„Normal" gibt es nicht. Das ist seit über 40 Jahren das Credo der Sextherapeuthin Ruth Westheimer. Vermutlich vertrauen sich deshalb so viele Amerikaner*innen „Dr. Ruth“ an, wenn sie eine Frage haben, die ihnen peinlich ist.
Vielleicht liegt es auch an der ungewöhnlichen Erscheinung Westheimers. Die Frau mit dem ansteckenden Lachen und dem harten deutschen Akzent ist nur 1, 40 m groß.
Ruth Westheimer holt Sex aus der Schmuddelecke
Stets adrett und konservativ gekleidet wirkte sie schon in jüngeren Jahren wie eine nette Großmutter, von der man Handarbeitstipps erwarten würde, aber sicher nicht solche, wie man den Penis in die Vagina einführen soll.
Mit einer Fülle an Archivmaterial zeigt die Kinodoku „Fragen Sie Dr. Ruth“, wie diese mit ihrer sachlichen, verständnisvollen Art dazu beigetragen hat, Sex aus der Schmuddelecke zu holen. Anfang der 80er Jahre war das ein Schocker.
Viele Fans, viele Feinde
Niemand sprach damals in den Medien über Sexualität. Schon gar nicht über weibliche oder schwule, über Themen wie Selbstbefriedigung, Abtreibung oder Aids.

Mit ihrer Radiosendung „Sexually speaking“ brach Ruth Westheimer ein Tabu. Ihre unerschrockene Deutlichkeit sowie ihr Einsatz für Emanzipation und Diversität brachten ihr eine riesige Fangemeinde ein, aber auch einigen Gegenwind.
Gegen die Diskriminierung von Schwulen
In „Fragen Sie Dr. Ruth“ erinnert sich die heute 92-Jährige, wie schwer es zum Beispiel war, gegen die Stigmatisierung von Homosexuellen anzureden:
„Schwule waren nicht einfach eine Minderheit, sie wurden verachtet. Ich habe das sehr ernst genommen, schon allein wegen meines Hintergrunds als deutscher jüdischer Flüchtling. Ich hatte ein Gespür dafür, wie es sich anfühlt, wenn einen andere als Untermenschen betrachten.“
Arbeiterin in Sachen Aufklärung
Die Doku porträtiert Westheimer als rastlose Arbeiterin in Sachen Aufklärung. Mit einem schnarrenden „Alrrright“ stürzt sie sich jeden Morgen gut gelaunt in ihren vollgestopften Terminkalender.
Sie lehrt an zwei Unis, schreibt Bücher und tritt noch immer gerne in Talkshows auf. Die tragische Lebensgeschichte, die sich hinter dieser Betriebsamkeit verbirgt, erzählt Regisseur Ryan White mithilfe animierter Bilder nach.
Flucht vor dem Holocaust
Ruth Westheimer, geboren als Karola Siegel, stammt aus einer jüdischen Frankfurter Familie. 1938 schicken ihre Eltern die 10-Jährige mit einem Kindertransport in die Schweiz, wo sie bis Kriegsende bleibt.
Ihre Familie sieht sie nie wieder. Eltern und Großmutter werden Opfer des Holocaust.
Arbeit als Überlebensstrategie
Westheimer geht nach Palästina, kämpft in einer zionistischen Untergrundorganisation, studiert später Psychologie an der Sorbonne und emigriert schließlich in die USA, wo sie heute Kultstatus genießt. Aus ihrem Schicksal hat Westheimer die Verpflichtung abgeleitet, das ihr geschenkte Leben voll auszukosten.

Den Schmerz lässt sie auch in der Doku nicht an sich heran. „Sie ist fast 90, aber immer beschäftigt. Zum einen, weil sie ihre Arbeit liebt, zum anderen ist das ihre Überlebensstrategie“, sagt Ruths Sohn Joel im FIlm. „Sie fühlt, dass sie die Wahl hat: entweder sie macht immer weiter oder sie wird von ihrem Lebensschmerz aufgefressen.“
Regisseur Ryan White inszeniert berührende Begegnungen
Für „Fragen Sie Dr. Ruth“ ist Westheimer mit Regisseur Ryan White die Stationen ihres Lebens abgereist. Das wirkt manchmal etwas gewollt und gehetzt, etwa wenn Westheimer einen Waffensammler besucht, wo White sie ein Gewehr zusammenbauen lässt, um von ihrer Zeit als Scharfschützin zu erzählen.
Berührender sind die Begegnungen, für die sich der Film Zeit nimmt, etwa wenn die alte Dame ihre erste Liebe aus dem Schweizer Kinderheim besucht. Oder wenn sie mit ihrer Tochter und einer Enkelin darüber diskutiert, warum sie denn eigentlich partout nicht als Feministin bezeichnet werden will, obwohl sie sich immer für Frauenrechte eingesetzt hat.
Porträt einer eindrücklichen Frau
Da wirkt Westheimer, die ihr Leben lang andere durch ihre Progressivität in Verlegenheit brachte, zum ersten Mal selbst ein bisschen altmodisch. „Fragen Sie Dr. Ruth“ ist das bewegende Porträt einer charismatischen und eindrucksvoll unabhängigen Frau.
Ein Lebensgeschichte, die dazu auffordert, auch aus der existentiellsten Krise neuen Lebensmut zu schöpfen.