TV-Doku

Unausgewogener Film über Michael Jackson: "Leaving Neverland" zu Missbrauchsvorwürfen

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Von Rüdiger Suchsland

Die TV-Dokumentation "Leaving Neverland" von Regisseur Dan Reed erhebt schwere Vorwürfe des Kindesmissbrauchs gegen Michael Jackson. Dieser Film macht Michael Jackson posthum unausgewogen den Prozess, findet SWR2 Filmkritiker Rüdiger Suchsland. ProSieben sendet die umstrittene Dokumentation am Samstag, den 6. April.

Der King of Pop - bald ein König Ohneland?

Er war der King of Pop: Michael Jackson, die erste globale schwarze Medienikone. Geht es nach der Fernsehdokumention "Leaving Neverland" des Regisseurs Dan Reed, dann ist er bald ein König Ohneland.

"Leaving Neverland" erzählt, wie im Jahr 1987 Michael Jackson bei Dreharbeiten zu einer Werbung den zehnjährigen Jimmy Safechuck kennenlernte, und ihn, so jedenfalls behauptet es der erwachsene Safechuck in diesem Film, bald danach zum ersten Mal sexuell verführte.

Ein Film voller ekelhafter Geschichten

Das ist ein unangenehmer Film, berstend voll mit ekelhaften Geschichten, mit Details, die kaum jemand wissen will, und die niemand wissen muss, um sich ein Bild zu machen. Denn nach 20 Minuten hat der Film gesagt, was er zu sagen hat. Danach wiederholt und variiert er dies nur immer wieder.

ProSieben - nicht für besonderes oder soziales Gewissen bekannt

Die beiden jeweils zweistündigen Teile, die am Samstag erstmalig in Deutschland zu sehen sein werden, im nicht gerade für besondere Sensibilität oder soziales Gewissen bekannten Privatsender ProSieben, bestehen großteils aus Interviews mit Safechuck und Wade Robson, den zwei einst jungen Männern, die hier zu Kronzeugen der These und Hauptakteuren des Films werden, aus öffentlichen Archivbildern und Nahaufnahmen auf ihren Gesichtern und denen ihrer Mütter.

Film auch in den USA hochumstritten

Der Regisseur suggeriert mit Drohnenaufnahmen über dem ehemaligen Anwesen Jacksons zugleich die gottgleiche Perspektive eines allwissenden Erzählers. Stilistisch ist dies ein schwacher Film, unter dem Niveau der großen amerikanischen Dokumentarkunst.

Das Urteil scheint gesprochen. Doch der Eindruck trügt. Trotz alldem ist "Leaving Neverland" nämlich hochumstritten, auch in den USA, und das hat seine guten Gründe. Regisseur Dan Reed dokumentiert nicht, er plädiert.

Ein Dokument der Anklage - ohne Argumente der Verteidigung

Dieser Film macht Michael Jackson postum den Prozess. Dieser Film ist ein Dokument der Anklage. Er ist nicht ausgewogen. Argumente der Verteidigung werden nicht gehört, entlastende Indizien kommen nicht vor.

Man muss noch einmal an die Tatsachen erinnern: Die bekanntlich nicht zimperliche amerikanische Justiz hat Michael Jackson freigesprochen. Das FBI hat jahrelang ermittelt, ohne Erfolg, der 300-seitige Ermittlungsbericht ist öffentlich im Internet einsehbar.

Unbewiesen, ob Michael Jackson pädophile Neigungen hatte

Man muss Michael Jackson also nicht mögen, aber dass er ein Kinderschänder ist, dass er auch nur pädophile Neigungen hatte, ist vollkommen unbewiesen.

Dass dieser Film vier Stunden braucht, um diese Anklage aufzubauen und wieder und wieder zu reproduzieren, ist so übertrieben und monumental, wie die Einseitigkeit des Films monströs ist. So monströs, wie die Neigung des internationalen Publikums, sich zu schnellen und absoluten, vollkommen einseitigen Urteilen aufzuschwingen.

Inszenierung eines Spektakels? Dieser Verführung erliegen auch die Filmemacher

So traurig wie die Bereitschaft, rechtsstaatliche Grundsätze über Bord zu werfen - im Zweifel für den Angeklagten. Kein Urteil ohne fairen Prozess? Alles vergessen.

Der Film beschreibt Prozesse der Abhängigkeit der Verführung, Verführung durch Ruhm und Verführung durch Reichtum. Der erliegen auch alle, die hier versuchen, ein Spektakel zu inszenieren über einen Toten, der sich nicht mehr wehren kann.

Schmierige Kapitalisierung des Themas Pädophilie

Dieser Film und die so oder so unangenehme, schmierige Kapitalisierung des Themas Pädophilie, Missbrauch und was es umgibt, sind eine Mahnung innezuhalten und einen angemesseneren Umgang mit diesen Themen zu suchen.

Öffentliche Hysterie und Schauprozesse am Fernsehpranger, ohne Verteidigung und mit dem Publikum als Richter, schaden der Sache, so wie die Lust an moralischen Schnellverfahren unserem Charakter und der ganzen Gesellschaft schadet. Die Monster sind nicht nur auf einer Seite. Sie sind überall.

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SWR