Werther ist online, eigentlich immer.
Gerade hat er sich mit seinem besten Freund Willi eine Verfilmung von Goethes „Werther“ angesehen. Jeder in seiner Studentenbude, aber über Videochat verbunden. Willi kann im Gegensatz zu Werther nicht viel mit dieser alten Geschichte anfangen.
Bekanntschaft über ebay-Kleinanzeige
Während die beiden Freunde noch über den Film reden, sehen wir auf Werthers Computerbildschirm permanent Instagram und WhatsApp-Nachrichten einflattern. Dann kommt plötzlich auch noch ein Anruf rein: eine gewisse Lotte ruft wegen der ebay-Kleinanzeige an. Sie hat das Buch über historische Pistolen noch und würde es ihm schicken, wenn er möchte. So beginnt ein lebhafter Austausch zwischen den beiden. Und wir können live an Werthers Bildschirm mitverfolgen, wie sie sich Text- und Sprachnachrichten senden, ZOOM-meetings abhalten und sich gegenseitig Fotos und Songs hin und herschicken. Wir sind also ganz nah dabei, wenn aus dieser Zufallsbekanntschaft die ganz große Liebe wird.
Goethes Briefroman ist zeitlos
Die 27-jährige Regisseurin Cosmea Spelleken ist seit ihrer Schulzeit begeistert von Goethes Briefroman. Sie ist davon überzeugt, dass dieser zeitlos schöne und wirkmächtige Plot auch als Social-Media-Theaterstück für ihre Generation funktioniert.
Zum Glück hat Cosmea Spelleken zwei sehr digital-affine KollegInnen mit ins Boot holen können. Denn fast 90 Prozent des zweistündigen Abends ist wirklich live gespielt. Die meiste Zeit verfolgen wir das Geschehen auf dem Bildschirm von Werther. Nur ab und zu gibt es kleine Einspieler, in denen jemand auf einer alten Schreibmaschine Originalzitate aus Goethes Werther abtippt.
Inszenierung lässt vergessen, ein Theaterstück zu sehen
Die drei Schauspieler agieren so natürlich, dass man zwischenzeitlich fast vergisst, ein Theaterstück zu sehen: Drei junge Menschen kommunizieren ständig über Laptops und Smartphone miteinander, sie sind verbunden und doch einsam und allein in ihren Zimmern.
Direkterer Austausch mit Publikum als auf der Bühne
Diese distanzierte Verbundenheit bekommt aktuell durch das Leben im Lockdown nochmal eine ganz andere Dringlichkeit. Das merkt das Produktionsteam auch an den Kommentaren, die die Zuschauer*innen live abgeben. Die Möglichkeit zu interagieren, kam erst nach und nach in die Inszenierung. Für viele sei das wie eine Bühne, auf der sie sich selbst inszenierten, sagt Werther-Darsteller Jonny Hoff. So viel direkten Austausch hat er als Theaterschauspieler sonst nicht, sagt Jonny Hoff. Eine Erfahrung, die er genießt – zumal ja sonst zur Zeit kaum Kontakte möglich sind.
Die Arbeit an dem digitalen Theaterstück hat dem Kollektiv so viel Spaß gemacht, dass es in der gleichen Konstellation weitermachen möchte. Neue Stückideen gibt es schon. Aber zuerst einmal hoffen sie noch auf möglichst viele Aufführungen von „werther.live“. Die Inszenierung hat gezeigt, wie originell und frisch digitales Theater sein kann. Ein echter Lichtblick aus der freien Szene im sonst oft eher langweiligen online-Angebot der etablierten Theater!