Das Schlagwort „Cancel Culture“ ist spätestens seit dem Krieg in der Ukraine und den vielen Diskussionen um russische Künster*innen, die sich nicht klar genug von dem Angriffskrieg distanzieren, wieder in aller Munde. Zensur oder Protestform, um Diskurse neu zu regeln? Der Stand-Up Comedien Salim Samatou analysiert das Phänomen und seine Geschichte humorvoll am 13. April 2022 im Renitenztheater Stuttgart mit seinem Bühnenprogramm „Cancel Culture“.
Cancel Culture als roter Faden der Gesellschaft
Die Absagekultur – seit Beginn des Krieges in der Ukraine erlebt sie einen neuen Höhenflug. Das Schlagwort taucht immer häufiger in öffentlichen Debatten auf. Umstrittene Beiträge und Auftritte von Künstlerinnen und Künstlern werden nachträglich aus dem Netz gelöscht, Musikerinnen wegen ihrer Haare von Klima-Demos ausgeladen, Schauspieler werden aus Filmen, Autoren aus Verlagsprogrammen gestrichen – sie sollen öffentlich nicht mehr stattfinden, werden „gecancelt“.
Zensur oder Protestform zur Neuregelung von Diskursen? Salim Samatou nimmt das Phänomen Cancel Culture humorvoll aufs Korn – aber mit ernstem Hintergrund: „Das ist sozusagen der rote Faden, der sich seit den 2020ern durch unsere Gesellschaft zieht – dass man quasi keine Entschuldigungen mehr akzeptiert, keine minimalen Konsequenzen – sondern jeder soll für jeden Fehler ausgelöscht werden.“

Doppelmoral im Spiel
Dabei will er sein Publikum auch über die Doppelmoral der Canceler stolpern lassen, die für sich in Anspruch nehmen, für die gute Sache zu kämpfen: „Vor nem Monat zum Beispiel, hätte er gesagt: Ich verkaufe nichts an Russen, wäre er direkt als Rassist gecancelt worden“ — heute würde eine solche Person von den gleichen Leuten als „Ehrenmann“ gefeiert werden.
Auch wenn hierzulande nicht von der Regierung gecancelt wird, sondern vom Volk: Die Cancel Culture wurde sozusagen von Diktatoren erfunden. Samatou, der Wirtschaftsinformatik und Geschichte studiert hat, erklärt, die Mechanismen seien immer dieselben gewesen.Irgendwann traue sich keiner mehr, etwas zu sagen.
Aus Twitter-Witz wird eine Formel für Kulturkampf
Der Begriff der Cancel Culture tauchte 2014 das erste Mal in den USA auf – und war eigentlich ein Witz. Auf Twitter hieß es spaßhaft, wenn jemand die eigene Meinung nicht teilte - „die Person ist für mich gecancelt“. Schnell aber wurde der Protest moralischer und eine Möglichkeit für marginalisierte Gruppen, sich unter dem Hashtag #CancelCulture Gehör zu verschaffen. Aus deren Perspektive sei das Canceln ein demokratischer Vorgang, dem Netz sei Dank.
Mit Humor gegen Echokammern auf Social Media
Für Salim Samatou aber nimmt das immer absurdere Züge an: „Ich glaube definitiv, dass das an den Blasen liegt – weil jeder seine Blase hat und sich selbst als kleiner Che Guevara oder Martin Luther King sieht“. Um Veränderungen zu bewirken, braucht es Diskussionen statt strafendem Ausschließen und Schweigen.
Krieg, Rassismus, Corona – vor Salim Samatou ist nichts sicher: „Umso trauriger und dramatischer und schlimmer – desto größer ist die Verantwortung des Comedians/Kabarettisten daraus etwas Lustiges zu machen, weil das die einzige Art und Weise ist, wie man mit allem gerade überhaupt noch klarkommt.“