Frech, unterhaltsam und entlarvend – so kommt der klassische Ödipus-Stoff am Schauspiel Stuttgart als Stück über die Klimakatastrophe auf die Bühne. Warum der Rat von Expert*innen und Wissenschaftler*innen so schwer umzusetzen ist, das zeigen Regisseur Stefan Pucher und das überzeugend aufspielende Ensemble auf grandiose Weise.
Warum nur will niemand was ändern?
Vertrocknete Ödnis, Regen, der die Haut verätzt, kaum Luft zum Atmen, die Klimakatastrophe steht vor der Tür. Warum nur will keiner was ändern. Darüber diskutiert Pythia, die weissagende Priesterin mit einem blinden Seher:
„Es geht um unser aller Überleben. Glaubst du, du würdest ihnen sagen, ändert Euer System. Werft hinweg, woran ihr glaubt, sie würden es tun? Aber sie tun doch alles, was du sagst. Ja, wenn es andere betrifft, aber keiner wäre bereit Macht und Privilegien abzugeben, Kinder wegzulegen, um die sogenannten Götter zu beruhigen, aber Macht abgeben sich verkleinern, never.“

Gutsituierte Alte brettern im SUV über achtspurige Betonpisten
Keiner will sie hören, die Vorhersagen der Expert*innen und Wissenschaftler*innen, die schon lange erklären, was zu tun wäre. Lieber brettert der Chor – drei gutsituierte Alte in beigen Klamotten – weiter in SUVs über die achtspurigen Betonpisten und hängt anschließend beim Weinschlürfen in der Halbhöhenlage ab.
Und Ödipus – sorry, Alter, um im Jargon des Stücks zu bleiben, dieser selbstverliebte, machtbesessene Gockel versteht einfach nicht, worum es geht. Klar, er hat seinen Vater mit einem Cinquecento überfahren und vier Kinder mit seiner Mutter gezeugt – aber so what. Sich deshalb heldenhaft und öffentlichkeitswirksam selbst zu opfern, um die Klimakatastrophe abzuwenden, für einen Systemwechsel reicht das auf keinen Fall.

Witzige und bitterböse Trash-Revue von Regisseur Stefan Pucher
Regisseur Stefan Pucher macht aus forecast ödipus eine witzige, bitterböse Trash-Revue – bei der einem das Lachen dennoch des Öfteren vergeht. Ödipus im griechisch folkloristisch angehauchten Kostüm mit weiten plissierten Ärmeln, darüber ein Shirt im Glitzerlook.
Iokaste, Mutter und Frau von Ödipus, ganz in Gold gehüllt. Kostüme überladend und schrill, alle staksen in hohen Plateauschuhen herum. Nur eine Botin, die als Klimaflüchtling in Theben ankommt, sieht ziemlich derangiert aus.

Ein greiser Chor von Wohlstandsbürgern tritt als Rap-Gang auf
Das insgesamt sehr überzeugende Ensemble agiert vor und auf einem dreigeschossigen gerüstartigen Aufbau unter einem blutroten Himmel. Über eine Videoleinwand, gehalten von riesigen Teufelskrallen, flimmern Ballerspiele oder die Protagonisten - live gefilmt in Nahaufnahme. Zwischendurch tobt der greise Chor aus Wohlstandsbürgern als Rap Gang über die Bühne.
„forecast:ödipus“ ist frech, unterhaltsam und entlarvend
Isch over mit den Mythen und dem Wachstum. Bildungsauftrag somit erledigt, verkündet Iokaste am Ende ernüchtert. Denn ein „Weiter-so“ statt dem geforderten Systemwechsel zeichnet sich ab. Holy Shit möchte man rufen: frech, unterhaltsam und entlarvend – forecast:ödipus am Schauspiel Stuttgart. Tosender Applaus!
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