Ein realer Prolog führt zum fiktiven Kern des Stücks
In diesem Stück geht es ums Prinzip. Das macht schon das Bühnenbild deutlich, das einen Gerichtssaal zeigt: nüchtern, eher grau. Vier Plätze mit Mikrofonen, für Verteidiger, Richterin, Staatsanwältin und Klägerin.
Aber zuerst tritt Yvonne Aki-Sawyerr auf, sie ist die Bürgermeisterin von Freetown in Sierra Leone. Sie berichtet davon, wie der Klimawandel ihre Stadt getroffen hat und immer noch trifft, die einst grünen Hügel rund um Freetown sind entwaldet, Yvonne Aki-Sawyerr berichtet von Erdrutschen, von Fluten mit mehr als 1000 Toten. Länder des Globalen Südens wie Sierra Leone sind härter von dieser Krise getroffen. Obwohl sie viel weniger zu ihr beigetragen haben als eine Auto-Stadt wie Stuttgart.
Dieser sehr reale Prolog führt gleich zum fiktiven Kern des Stücks „Ökozid“: 2034 verklagen 31 Staaten des Globalen Südens die Bundesrepublik Deutschland. Sie fordern eine jährliche Ausgleichszahlung von 60 Milliarden Euro, damit sie die Folgen der Krise bewältigen können.
Die Argumente der Verteidigung halten der Faktenflut nicht stand
Vor dem Gericht müssen sich Gerhard Schröder und Angela Merkel rechtfertigen. Wobei nur Merkel erscheint, Schröder halte sich gerade in Russland auf und sei verhindert, heißt es. Nicole Heesters verkörpert Merkel durchaus gekonnt, gerade weil sie es nicht auf Ähnlichkeit oder Parodie angelegt hat.
Ohnehin: das hier ist ein fairer Prozess. Die Argumente der Verteidigung – Arbeitsplätze, der Schutz der deutschen Industrie – sind nachvollziehbar und bekannt. Nur halten sie der Flut an Fakten, die Andres Veiel und Jutta Doberstein zusammengetragen haben, nicht stand, ebenso wenig wie das Bild vom Klima-Musterschüler Deutschland bestehen bleibt.
Den Zuschauer*innen werden viele langwierige Details zugemutet
Im Gegenteil: „Ökozid“ zeigt sehr deutlich wie die Regierungen Schröder und Merkel deutsche Industrie-Interessen durchsetzten, so wurden etwa EU-Richtlinien bewusst verwässert. Und auch Autobauer wie Daimler haben den Umbau zu emissionsfreien Antrieben einfach lange ignoriert oder verweigert.
Andres Veiel bezeichnet diese Faktenflut als „Emotionalität des Faktischen“. Den Zuschauerinnen und Zuschauern mutet er so ziemlich viel zu, viele langwierige und auch langweilige Details, etwa die Tücken des Handels mit CO2-Zertifikaten.
Ein packendes Stück mit einer klaren Botschaft
Dennoch: „Ökozid“ ist ein packendes Stück – auch weil die Inszenierung von Burkhard Kosminski die Grenzen zwischen Realität und Fiktion bewusst verwischt. Dabei kommt ihm die Welt außerhalb des Theaters entgegen. Die Botschaft des Stücks: der Klimawandel ist hier, wer jetzt nicht handelt, für den wird es 2034 zu spät sein.
Noch vor Kurzem hätte man einen Klima-Prozess als Gedöns belächelt, seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Frühjahr ist das anders. Regierungen tragen auch für die Auswirkungen ihrer Entscheidungen in der Zukunft Verantwortung.
Und nicht nur die Regierungen: Gegen Ende von „Ökozid“ fährt die hintere Bühnenwand immer weiter nach vorn. Bis von der eigentlichen Bühne nichts mehr zu sehen ist – der Illusionsraum Theater hat sich aufgelöst. Ebenso wie der Handlungsspielraum der Figuren.
„Ökozid“ von Andres Veiel und Jutta Doberstein hat am 24. September 2021 Premiere am Schauspiel Stuttgart, die folgenden Aufführungen sind für den 30.9., sowie 1., 2. und 18. Oktober geplant.
Im Rahmen eines „Klimawochenendes“ wird dort am 25. September auch das SWR2 Forum zum Thema „Green Deal in der Kunst — Kann Kunst klimaneutral sein“ aufgezeichnet.