Es ist der 22. Oktober 1940. An diesem Tag wurden 123 Bewohner*innen aus Bruchsal und Umgebung ins französische Lager Gurs deportiert, darunter auch ein Mädchen namens Edith. Edith Leuchter hat den Holocaust überlebt, konnte nach Kriegsende in die USA fliehen, wo die heute 96-Jährige noch immer wohnt. Ihre Geschichte hat die Badische Landesbühne Bruchsal aufarbeiten lassen und bringt sie jetzt als Theaterstück unter dem Titel „Mädchen mit Hutschachtel“ auf die Bühne.
Die „Stolperstein“- Initiative wusste, wer das Mädchen mit der Hutschachtel ist
Man sieht das kleine Mädchen in dem Nazi-Propagandafilm nur ein paar Sekunden lang. Ein Mädchen im Mantel, in der Hand eine Hutschachtel. Sie läuft mit ihrer Mutter und vielen weiteren jüdischen Bürgerinnen und Bürgern zum Bahnhof ihrer Heimatstadt Bruchsal.
Zuerst war da nur die bohrende Frage, was aus diesem kleinen Bruchsaler Mädchen mit der Hutschachtel geworden ist, das man in dem Nazi-Propagandafilm von 1940 auf dem Weg zur Deportation sieht?
Die Dramaturgin und Regisseurin der Badischen Landesbühne, Petra Jenni, kann sich noch genau daran erinnern, wie sie zuerst gar nicht so recht wusste, wie sie recherchieren sollte. Doch Rolf Schmidt von der „Stolperstein“-Initiative in Bruchsal konnte der Dramaturgin weiterhelfen, er hatte bereits den heutigen Namen des Mädchens herausgefunden: Edith Leuchter.
Edith Leuchter erinnert sich noch sehr genau
Die Badische Landesbühne Bruchsal konnte den Kontakt zu der 96-jährigen Edith Leuchter herstellen, die mit ihrem Mann und ihren Töchtern in den USA lebt. Und dann verabredete sich die Dramaturgin Petra Jenni mit der Familie zu einem Interview über Skype.
Bei den Interviews war auch die Autorin Lisa Sommerfeldt dabei, die das Theaterstück schreiben sollte. Sie war tief beeindruckt, wie offen Edith Leuchter über die schrecklichen Erlebnisse sprach und wie genau sie Auskunft geben konnte.
Als Mädchen konnte sie damals aus dem Lager fliehen und überlebte unter falschen Namen den Krieg in Frankreich. Danach konnte sie in die USA ausreisen, wo sie ihren Vater wiederfand.
Recherchen in verschiedenen Archiven flossen mit in das Stück ein
Doch nicht über alles konnte Edith Leuchter mit den Theatermacherinnen sprechen: zum Beispiel über den Tod der Mutter und des Bruders, die in Auschwitz ermordet wurden. Da musste die Autorin Lisa Sommerfeldt auf die Tagebücher und Briefe der Familie und auf andere Zeitzeugenberichte zurückgreifen. Schließlich ging es hier um historische Genauigkeit.

Auch die aufwendigen Recherchen im Generallandesarchiv Karlsruhe und im Staatsarchiv in Ludwigsburg sind in dieses außergewöhnliche Theaterstück miteingeflossen, erklärt Regisseurin Petra Jenni.
Eine Geschichte, die zur Erinnerung beitragen soll
Edith Leuchter wird aus gesundheitlichen Gründen leider nicht zur Uraufführung des Theaterstücks nach Bruchsal anreisen können. Aber ihre Töchter werden dabei sein und nach der Aufführung in ihrem Namen sprechen. Dass dieses Theaterstück nun in Bruchsal auf die Bühne gebracht wird, bedeute ihrer Mutter sehr viel, erklärt Tochter Deborah:
„Unsere Mutter fühlt sich ziemlich geehrt, dass ihre Geschichte nun zu einem Theaterstück geworden ist. Millionen von Geschichten sind verloren, mit den Menschen, die die Nazis ermordet haben. Vielleicht kann diese eine Geschichte ein bisschen dazu beitragen, dass die Erinnerung bewahrt wird und sich solche Geschichten nicht wiederholen.“
Die Premiere des Stücks findet am 13.10.22 statt, es gibt außerdem spezielle Aufführungen für Schulklassen.
Die Landesbühnen im Südwesten: Erfolgreich, aber chronisch unterfinanziert
Gespräch „Die Unsichtbaren“: John Neumeier erinnert an verfolgte Tänzer im Nationalsozialismus
Deutschland war einst Zentrum für modernen Tanz - bis die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen. Von der Pionierarbeit vieler Tänzerinnen und Tänzer blieb danach nicht viel übrig, sagt der Historiker Ralf Stabel. Star-Choreograph John Neumeier erinnert nun mit seinem Tanz-Projekt „Die Unsichtbaren“ an Tanz-Pioniere wie Gret Palucca und Rudolf von Laban.
Ralf Stabel hat für Neumeier die Biografien der verfolgten Tänzerinnen und Tänzer aufgearbeitet und ist dabei bislang auf rund 300 Namen gestoßen. „Das Beschämende ist, dass es erst des Anstoßes von John Neumeier bedurfte, um diese Leben zu erforschen," sagt Stabel.
Von Ausgrenzung über Flucht und Deportation bis hin zur Ermordung reichen die Schicksale der politisch Verfolgten. Ihrer wird nicht nur mit der Inszenierung gedacht, sondern auch mit einer „Memorial Wall“, die im Foyer alle bisher recherchierten Personen zeigt. Und es dürften wohl weit mehr sein, so Stabel.
Film „Der Passfälscher“ – mitreißender Film nach einer wahren Geschichte
Cioma Schönhaus war ein junger jüdischer Grafiker, der die NS-Zeit mitten in Berlin überlebte. Er fälschte Pässe für sich und andere Verfolgte. Nun hat die preisgekrönte Regisseurin Maggie Peren das abenteuerliche Schicksal von Schönhaus verfilmt. In „Der Passfälscher“ spielt Ciomas Enkel Joscha Schönhaus einen Kollegen seines Großvaters.