Zeitwort

9.12.1968 : "Das Floß der Medusa" kann nicht aufgeführt werden

Stand
AUTOR/IN
Georg Waßmuth

Die gescheiterte Uraufführung des Oratoriums von Hans Werner Henze gilt als einer der spektakulärsten Skandale der Musikgeschichte.

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Uraufführung mit Che-Guevara-Fahnen

Am 9. Dezember 1968 behielt der Sprecher des NDR in seinem Ü-Wagen als einziger Ruhe und Überblick. Derweil kochten in der Ernst-Merck-Halle im Hamburger Park Planten und Blomen die Emotionen über. Zur Uraufführung von Hans-Werner Henzes „Floß der Medusa“ war nicht nur wohlsituiertes Bürgertum erschienen sondern auch lautstarke Unterstützer des Komponisten und deren Gegner vom SDS, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund.

Seine Vertreter hatten am Dirigentenpult eine rote Fahne als Zeichen der Unterstützung für den Freiheitskämpfer Che Guevara festgezurrt. Der RIAS-Kammerchor weigerte sich darunter zu singen. Nur der Sprecher im Ü-Wagen behielt konsequent die Nerven.

Die Situation im Konzertsaal eskaliert - das Radio spielt einen Mitschnitt

Trotz einiger Beschwichtigungsversuche eskalierte die Situation im Konzertsaal. Der Komponist Hans Werner Henze skandierte mit Studenten von der Bühne „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh“ Rufe, dann stürmte einsatzbereit gehaltene Polizei den Saal, es kam zu Rangeleien und Festnahmen.

Auch der Librettist des Stückes, Ernst Schnabel verbrachte die folgende Nacht zur Abkühlung in einer Zelle. Davon bekamen die Radiohörer nichts mehr mit. Der Sender hatte vorsorglich die Generalprobe mitgeschnitten und spielte einfach das Band ab.

Hörprobe aus "Das Floß der Medusa"

Breitseite des "Spiegel" gegen Henze

Hans Werner Henzes „Floß der Medusa“ ist als Oratorium konzipiert und schildert ein Flüchtlingsdrama aus vergangenen Zeiten, so wie es sich bis heute fast täglich im Mittelmeer ereignet. Musikalisch ist es ein gewichtiges Oeuvre, es ging aber in einer politisch aufgeheizten Zeit an den Start.

Eine Woche vor der geplanten Uraufführung am 9. Dezember 1968 hatte das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ eine Breitseite gegen den Komponisten abgefeuert:

Sein Publikum kommt in Smoking und Nerz, ins teure Salzburg und Edinburgh, in die Berliner Philharmonie und ins Amsterdamer Concertgebouw. Es knabbert nicht an den Fingernägeln, es riecht nicht nach Acht-Stunden-Tag. Es verlangt nach pastoraler Schönheit, nach Idylle, nach dem Opiat des Wohlklanges und nach blanker Kantabilität. Jedem das Seine, denkt Henze und gibt seinem Publikum, was es von ihm erwartet: Von dieser Welt ist sein Reich.

Der „Spiegel“ hatte Henze als Salonlöwen demaskiert. Von der Revolution reden und über die Missstände komponieren, aber gleichzeitig im maßgeschneiderten Anzug in einer maßgeschneiderten Villa residieren.

Der Studentenbund attackierte das "Publikum in Smoking und Nerz"

Doch der Komponist war nicht Hauptzielscheibe des Studentenbundes. Den Studenten ging es um die „kapitalistische Kulturindustrie“ das „Publikum in Smoking und Nerz“ und um eine neue, wahre „revolutionäre Kunst“.

Henze versuchte zwar, sich noch auf der Bühne mit den Studenten zu solidarisieren, aber den faden Anstrich, ein Schönling der Neuen Musik zu sein, wurde er nie mehr ganz los. Doch der Skandal schenkte ihm einen Karriereschub und volle Auftragsbücher.

Folgen für Henze: Karriereschub und volle Auftragsbücher

Auch der Sturm um sein „Floß der Medusa“ hat sich längst gelegt. Wie eh und je sitzt heute ein vorwiegend bürgerliches Publikum im Saal und erschauert mehr oder weniger „con affetto“ - mit Ergriffenheit.

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Georg Waßmuth