Kathrin Schreier hat täglich mit trauernden Eltern und Geschwistern zu tun. Sie leitet den Verband "Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister in Deutschland".
SWR1: Kann es überhaupt Trost und Halt geben in einer so schrecklichen Situation?
Kathrin Schreier: Im ersten Moment ganz sicher nicht. Die Eltern sind im absoluten Ausnahmezustand und brauchen eine ganze Weile um zu realisieren, was da gerade geschehen ist, bevor Platz für Trost und Halt ist. Aber Halt ist etwas ganz Wichtiges, was das Umfeld ihnen jetzt geben muss.
SWR1: Wie kann das Umfeld helfen?
Schreier: Das Umfeld kann in der Form helfen, dass es jetzt nicht wegbleibt. In der Regel stehen wir als Nachbarn, Freunde oder Arbeitskollegen dieser Situation so hilflos gegenüber, dass wir lieber gar nicht reagieren, bevor wir reagieren. Das ist das Schlimmste, was ihnen nach dem Tod ihres Kindes widerfahren kann, nämlich zur Randgruppe zu werden.
SWR1: In diesem Fall ist das besonders schwierig, da sich das Opfer und die mutmaßlichen Täter kannten und vermutlich auch die Eltern. An so einem Ort weiterzuleben - das ist schwer vorstellbar...
Schreier: Ich glaube, dass es in deren Gedanken keine Rolle spielt, aus diesem Ort wegzugehen. Sie müssen jetzt erst einmal realisieren, was ihnen widerfahren ist. Sie müssen irgendwann alle Fragen beantwortet bekommen. Sie müssen mit dem Tod ihres Kindes überleben lernen. Und ich glaube nicht, dass ein Weggehen aus der Heimat eine Hilfe sein kann, denn sie verlieren dann noch alles, was ihnen Halt geben kann. Ein neues Leben in einer neuen Umgebung hilft ihnen nicht ansatzweise, den Tod ihres Kindes zu überwinden - wenn das überhaupt möglich ist.
SWR1: Trauer ist das eine. Aber welche Rolle spielt vielleicht, dass Eltern grundsätzlich ihre Kinder schützen möchten und erkennen müssen: das geht nicht zu 100 Prozent?
Schreier: Ich glaube, das ist das Problem, was Eltern lange beschäftigt nach dem Tod ihres Kindes. Was habe ich nicht getan, was hätte ich tun können. Selbst wenn es ganz offensichtlich ist, dass die Eltern keine Möglichkeit hatten, ihr Kind zu schützen. In der Gefühlswelt der Eltern sieht es ganz anders aus. Sie setzen sich immer wieder mit den Momenten auseinander, wo sie nachfragen hätten müssen. Diese Gefühle sind aber auch eine Verbindung und Auseinandersetzung - und ganz wichtig, dass sie da sind.
Das Interview führte SWR1 Moderatorin Claudia Deeg.