Mutter hält Baby im Arm (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture alliance / Westend61 | Mareen Fischinger)

Psychologin Britta Wilke im SWR1 Interview

Wie Betroffene mit Gewalt unter der Geburt umgehen können

Stand
MODERATOR/IN
Steffi Stronczyk
Steffi Stronczyk (Foto: SWR)

Gewalt unter der Geburt kann sich auf psychischer, körperlicher und struktureller Ebene niederschlagen. Die Betroffenen verstehen oft erst spät, was tatsächlich passiert ist und tragen starke Belastungen davon.

Britta Wilke ist Diplom-Psychologin und auf Traumabearbeitung spezialisiert. Im SWR1 Interview erklärt sie, was Gewalt unter der Geburt für Betroffene bedeutet und wie damit umgegangen werden kann.

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SWR1: Welche Auswirkungen haben solche Erfahrungen auf betroffene Frauen?

Britta Wilke: Die Auswirkungen sind von vielen Faktoren abhängig. Das eine ist immer die Frage, welche möglicherweise schlechten Erfahrungen haben die Frauen bereits? Andere Faktoren sind, wie schwer wiegen die Belastungen, die die Frau unter der Geburt erleidet? Was passiert nach der Geburt? Wir wissen tatsächlich, dass ein soziales Netzwerk, das sich dann außenrum kümmert, immens wichtig ist, um eine schwerwiegendere Belastung, die daraus entstehen kann, zu verhindern. Gibt es ein verständnisvolles Umfeld und somit Möglichkeiten der Entlastung?

Ein weiterer Punkt ist, welche Vorstellungen hat die Frau? Ist für sie ganz klar: nur, wenn ich mein Kind zum Beispiel auf natürlichem Wege vaginal zur Welt bringe, dann ist das eine gute Geburt. Ist eine Vorstellung im Kopf wie, in dem Moment, wo ein Arzt, eine Hebamme, mir eine Anweisung gibt, habe ich dem unbedingt Folge zu leisten oder darf das auch hinterfragen?

Und dann geht es natürlich auch noch um das Kind. Wie geht es denn dem Kind? Das macht ganz viel mit den Frauen, wenn das Kind direkt nach der Geburt erst mal nicht bei der Mutter sein kann und getrennt wird. Diesen Frauen kann hinterher unter Umständen so etwas wie akute Belastungsreaktion und Traumafolgestörungen diagnostiziert werden. Auch das Risiko für das, was man Wochenbettdepressionen nennt, ist erhöht. Aber das Gute ist, egal wie schwerwiegend die Belastung ist: Es muss kein Trauma entstehen. Insofern kann auch das, was wir so als eine Horrorgeburt bezeichnen, bei einer Frau nicht ganz so tiefe Wunden hinterlassen. Und eine Geburt und die Übergriffe, die hingegen von außen gar nicht so schwerwiegend erscheinen, die hinterlassen sehr, sehr tiefe Wunden.

Wichtig ist ein Umfeld, das darauf achtet, was da passiert, und unter Umständen eingreift.

SWR1: Wie beeinflusst eine solche Geburt das Verhältnis zwischen Mutter und Kind?

Wilke: Es kann ganz klar zu einer Bindungsstörung kommen. Es gibt Frauen, die sich aufgrund der Ereignisse in einer längeren Schock- oder in einer Erstarrungsphase befinden und keine Bindung zum Kind aufnehmen können, auch schlichtweg deswegen, weil sie nichts fühlen. Das ist eine Form von Dissoziation. Aber auch das muss nicht sein. Es ist auch grade häufig die Beziehung zum Kind, die ein stabilisierender Faktor ist und der für die Frauen ganz hilfreich ist. Wichtig ist ein Umfeld, das darauf achtet, was da passiert, und unter Umständen eingreift.

Väter oft nicht ausreichend vorbereitet

SWR1: Jetzt müssen auch die Väter während der Geburt mit ansehen, was ihren Partnerinnen angetan wird. Was macht das mit denen?

Wilke: Für die Väter ist das häufig ein Riesenproblem. Zum einen wird in den Vorbereitungskursen nicht darauf geachtet, Väter schon dazu zu bringen, dass sie unter der Geburt eine aktive Rolle haben. Stattdessen sind Väter häufig damit konfrontiert, daneben zu sitzen, wenig zu machen. Aus ihrer Sicht zu wenig. Was gar nicht unbedingt der Fall ist. Sie sind mit einer riesengroßen Hilflosigkeit konfrontiert, was Auswirkungen auf den Selbstwert hat. Und tatsächlich gibt es Männer, die hinterher eine Traumafolgestörung haben.

SWR1: Was können Väter machen, wenn sie das während der Geburt mitkriegen?

Wilke: Sie können diejenigen sein, die hinterfragen. Etwas, was für Frauen unter der Geburt häufig gar nicht mehr möglich ist. Da ist keine Kraft und kein psychischer Widerstand mehr. Aber Patientenrechte auch umzusetzen, zu sagen "Muss das sein?", und auch mal ein "Nein" zu sagen, oder eine Hebamme, einen Arzt, eine Ärztin aufzufordern, empathischer zu sein. Und dann natürlich wirklich an der Seite der Frau zu sein und das gemeinsam mit ihr durchzustehen und nicht aus lauter Hilflosigkeit – was ja auch eine Schutzreaktion des Vaters ist – gar nicht mehr wirklich bei der Frau zu sein.

Der lange Weg zur Erkenntnis und Therapie

SWR1: Es gibt viele Frauen, die wissen oft gar nicht, dass sie Gewalt unter der Geburt erfahren haben. Das Umfeld ist auch oft wenig hilfreich. Wie lange ist der Weg, den Ihre Klientinnen hinter sich haben, wenn sie zu Ihnen kommen?

Wilke: Die meisten kommen ein bis zwei, drei Jahre nach der Geburt. Aber tatsächlich kommen manche auch bis zu zehn Jahre später, weil sie lange brauchen, bis sie wirklich realisieren, was da gelaufen ist. Auch, weil es wenig niedrigschwellige Angebote gibt, um mal über das Thema Geburt zu reden. Tatsächlich ist das Umfeld häufig wirklich sehr schwierig. Eine Aussage, die es häufig gibt, ist so etwas wie "ach, sei froh. Dem Kind geht es doch gut". Das ist eine Haltung, die verhindert völlig, dass Frauen sich ernst genommen fühlen.

Manche kommen bis zu zehn Jahre später [zu mir], weil sie lange brauchen, bis sie wirklich realisieren, was da gelaufen ist.

SWR1: Was hilft den Betroffenen konkret?

Wilke: Das Wichtigste ist ein Traumasensibles Umfeld, das wir im Großen und Ganzen nicht in unserer Gesellschaft haben. Dazu gehört ein verständnisvolles, unterstützendes Umfeld. Jemand, der nicht verurteilt, der nicht bewertet, der nicht sagt "Hauptsache, das Kind ist da. Alles andere ist doch nicht wichtig". Jemand, der nicht die Mutter automatisch in die zweite Reihe stellt, sondern als gleichwertig zu dem Wohl des Kindes betrachtet.

Außerdem ist auch eine konkrete Entlastung wichtig. Dass Frauen mal Zeit für sich wiederbekommen und unbedingt die Grenzen der Frau respektiert werden. Man kann sich vorstellen, dass unter so einer Geburt eben genau das Gegenteil passiert ist. Das darf hinterher nicht nochmal passieren. Es gibt natürlich Nachsorgehebammen und Frauenärztinnen. Die sollten erkennen, wenn eine Frau mehr Hilfe benötigt, gegebenenfalls auch eine therapeutische Unterstützung. All das kann im Nachhinein noch kommen.

Das Gespräch führte SWR1 Moderatorin Steffi Stronczyk.

Britta Wilke leitet eine psychologische Praxis für Therapie, Beratung und Traumabearbeitung in Frankfurt am Main. Weitere Informationen finden Sie auf der Webseite der Praxis.

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