Wir haben mit Erziehungswissenschaftler Prof. Thorsten Fuchs von der Universität Koblenz darüber gesprochen, welche Möglichkeiten und Chancen die Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit für die persönliche Identität bietet, und wann es sich lohnen kann, einfach abzusagen.
Was aus uns geworden ist
SWR1: Was passiert mit uns auf so einem Klassentreffen?
Thorsten Fuchs: Es ist zum einen eine schöne Gelegenheit, Personen wieder zu treffen, die man über die Jahre hinweg vielleicht aus den Augen verloren hat. Und zum anderen, um wieder gemeinsam in alten Erinnerungen zu schwelgen. Klassentreffen sind sowas wie Gruppenreisen, die es ermöglichen, Erinnerungen zu reaktualisieren. Das, was man selbst erlebt hat, auch in den Abgleich zu bringen mit den Erinnerungen der anderen, sodass sich diese Erinnerungen dann wieder zu einem komplexen Bild zusammenfügen.
SWR1: Wir begegnen uns dann nach 10, 20, 30 oder 40 Jahren und erleben, wie die anderen uns sehen oder vielleicht sogar, wie sie uns damals gesehen haben und können das dann auch vergleichen.
Fuchs: Ganz genau, das ist auch eine Chance für eine persönliche Rückschau, mich selber zu fragen, wer war ich damals, wer bin ich heute. Klassentreffen schaffen die Möglichkeit, eine Begegnung mit sich selbst vorzunehmen. Mit der eigenen Vergangenheit und der Entwicklung, die man bis zum heutigen Tag genommen hat.
Und wenn ich jetzt als Wissenschaftler in die Theoriekiste der Identitätsentwicklung greife, dann kann man hierzu auch sagen, dass wir nur dadurch zu einem Selbst werden, indem wir über die anderen gespiegelt bekommen, wer wir sind. Und wir integrieren dann auch diese Rückmeldungen in unser Selbstbild.
SWR1: Was bedeutet dann so ein Klassentreffen für mein Leben?
Fuchs: Klassentreffen sind zeitlich befristete Erinnerungsorte, die mich und die anderen auf eine Reise nehmen, auf der die eigene Biografie reflektiert wird. Das heißt, für den eigenen Lebenslauf bedeutet ein Klassentreffen, dass wir die Möglichkeit haben, unsere Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden.
Wir können darüber nachdenken, wie sich unsere Ziele, Werte, wie sich unsere Identität und auch unsere Lebensorientierung über die Jahre verändert haben. Wir setzen uns also mit den Veränderungen unserer Beziehungen und Verhältnisse auseinander – in Bezug auf uns selbst, aber auch auf andere und auf die Welt.
Klassentreffen: Eine Einladung zur Aufordnung unserer eigenen Vergangenheit
SWR1: Warum sind Klassentreffen für manche besonders anstrengend?
Fuchs: Das Gute ist, dass ich die Teilnahme an einem Klassentreffen selbst wählen kann. Es ist also freiwillig. Vielleicht gibt es einen leichten sozialen Zwang, den man spürt, der von anderen ausgeübt wird, wenn sie sagen, komm doch mit. Aber anders als beim Schulbesuch lässt sich eben selbst entscheiden, ob man am Klassentreffen teilnimmt oder auch nicht. Wenn man nicht teilnimmt, dann wird es dafür gute Gründe geben, die nicht unbedingt nur mit dem langen Schatten der Schulzeit zu tun haben müssen. Sondern auch mit widersprüchlichen Gefühlen oder der Angst Personen zu begegnen, die man während der Schulzeit nicht mochte, durch die man Missachtungserfahrungen erlitten hat, etwa Hänseleien.
Ich kann es mir also selbst aussuchen und stehe auch nicht so unter Bewährungsdruck wie zu Schulzeiten. Es werden keine Klassenarbeiten geschrieben, es gibt keine Sportübungen, an denen ich scheitern kann und so weiter. Und das macht es eigentlich leicht, an so einem Klassentreffen teilzunehmen.
Und es auch als Gelegenheit zum Austausch mit anderen zu nutzen, vor allem als biografische Begegnung mit sich selbst, gewissermaßen also als eine Einladung zur Aufordnung unserer eigenen Vergangenheit.
Das Gespräch führte SWR1 Moderator Michael Lueg.