Rudolf Egg war von 1997 bis 2014 Direktor der Kriminologischen Zentralstelle des Bundes und der Länder. Trotz seiner langjährigen Erfahrung mit Kriminalfällen und Straftätern ist der aktuelle Fall in Freudenberg auch für Egg ein außergewöhnlich schockierendes Ereignis.
SWR1: Herr Egg, Sie sind erfahren. Seit Jahrzehnten beschäftigen Sie sich mit Kriminalfällen. Was geht Ihnen bei dieser Tat durch den Kopf?
Rudolf Egg: Sie sagen "erfahren" zurecht. Ich habe mit sehr vielen Fällen zu tun gehabt. Aber es gibt dann doch immer wieder Fälle, die einen überraschen. Wo man sagt, gibt es denn so etwas auch? Und das ist so ein Fall. Es ist doch etwas sehr, sehr Extremes, etwas Seltenes. Etwas, das einen nicht wirklich in Ruhe lassen kann.
SWR1: Kann es denn überhaupt eine Erklärung geben, warum Kinder so etwas machen?
Egg: Es muss eine Erklärung geben. Aber wahrscheinlich gibt es nicht nur einen einzigen Grund, ein einziges Motiv, sondern eine Vielzahl von Dingen, die da zusammengekommen sind. So wie das auch bei anderen Fällen der Fall ist, dass es nicht so eine ganz einfache, stromlinienförmige Erklärung gibt.
"Dass es so extrem wurde, ist zwar etwas Seltenes, aber leider etwas, was doch vorkommen kann."
SWR1: Wir wollen nicht spekulieren, aber aus Ihrer Erfahrung heraus: Was kann so eine Tat auslösen?
Egg: Bei Kindern ist es natürlich anders als bei Erwachsenen. Da geht es nicht um Geld, Liebe und Sexualität, sondern um Eifersüchteleien. Um das, was Kinder sowieso in dem Alter irgendwie bewegt, worüber sie streiten können, worüber sie sich uneins sind. Und ich nehme an, dass es da auch so einen Konflikt gab zwischen den Mädchen, der dann aber diese tödliche Konsequenz hatte. Also das, was man alltäglich auf Schulhöfen beobachten kann, würde ich vermuten, spielte auch hier eine gewisse Rolle. Streitigkeiten unter bekannten Kindern, unter Mädchen, die sich da nicht immer einig sind. Dass es dann so extrem wurde, ist zwar etwas Seltenes, aber leider etwas, was doch vorkommen kann.
SWR1: Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst von der CDU sagt, in den vergangenen Jahren sei in Nordrhein-Westfalen ein beunruhigender Anstieg von Straftaten, auch Gewalttaten durch Jugendliche oder Kinder festzustellen gewesen. Ist das so? Was sagt die Statistik über Kriminalität von Kindern?
Egg: Die polizeiliche Kriminalstatistik erfasst Straftaten von Kindern ab dem achten Lebensjahr. Und in der Tat gibt es da einen gewissen Zuwachs. Aber der sieht nicht so aus, dass man jetzt Angst und Sorge haben müsste, dass es da eine Flut von Straftaten oder gar Mord und Totschlagsdelikten gibt.
Aber jeder Fall ist natürlich ein Fall zu viel, und ich denke, man sollte sich das schon sehr gründlich anschauen. Denn die Möglichkeiten, wie sich Kinder und Jugendliche bewegen, haben sich in den letzten 50 oder 60 Jahren schon verändert. Das sind zum Teil positive Entwicklungen, dass sie mehr Freiheiten und Rechte haben, mehr tun können und dürfen. Aber es sind dann halt auch negative Entwicklungen, dass sie in Streitigkeiten zum Messer greifen und gewalttätig werden.
"Gegenfrage: Würden Sie ein zehnjähriges Kind ins Gefängnis stecken wollen?"
SWR1: Müsste deshalb die Strafmündigkeit angepasst werden, möglicherweise das Alter herabgesetzt werden auf zehn oder zwölf Jahre? Denn die beiden mutmaßlichen Täterinnen sind ja noch strafunmündig.
Egg: Gegenfrage: Würden Sie ein zehnjähriges Kind ins Gefängnis stecken wollen? Wohl nicht. Aber dass man das einfach so durchgehen lässt, das kann natürlich auch nicht sein. Das heißt, ich würde weniger an der Strafmündigkeitsgrenze arbeiten oder etwas ändern wollen, sondern an der Frage: Wie gehen wir denn mit Kindern um, die solche Dinge tun? Und was mich eigentlich noch mehr bewegt in diesem Zusammenhang, sind die Familie des Opfers und die Freundschaften, die Schulkameradinnen und Kameraden. Wie geht es denn denen? Und was kann man da tun, damit die irgendwann mal wieder so etwas wie Normalität erleben können? Da sind schon Aufgaben zu tun, die mit einer Änderung der Strafmündigkeitsgrenze allein überhaupt nicht zu bewältigen wären.
Das Gespräch führte SWR1 Moderatorin Claudia Deeg.