SWR Sport: Herr Pflieger, welche Schwerpunkte will Ihre AG setzen?
Klaus Pflieger: Wir wollen uns nicht rückblickend um Schuldige kümmern, Bestrafungen oder Disziplinarverfahren organisieren. Unser Blick soll nach vorne gehen. Was kann man aus den Vorwürfen lernen? Was kann man besser machen? Müssen Strukturen verändert werden? Um die entsprechenden Schlüsse zu ziehen, ist es wichtig, die Geschichten zu kennen. Wir müssen wissen, was passiert ist und wie der Status Quo ist. Erst dann können wir nach vorne gehen.
Dafür müssten Sie aber auch Gespräche mit Sportlerinnen, Trainern und Funktionären führen. Die ermittelnde Staatsanwaltschaft Stuttgart beansprucht aber "Erstzugriff" für diese Gespräche…
Pflieger: Das ist eines unserer größten Probleme. Die Staatsanwaltschaft hat uns gebeten, möglichst keine Kontakte aufzunehmen zu betroffenen Personen, also Turnerinnen, Trainern oder Verbandsverantwortlichen. Als alter Staatsanwalt habe ich natürlich Verständnis dafür, dass man das Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Stuttgart möglichst unberührt lässt. Andererseits sind alle Mitglieder unserer Arbeitsgruppe der Auffassung: Wir müssen uns einen persönlichen Eindruck verschaffen, um überhaupt ein Gefühl zu bekommen, was schiefgelaufen ist. Wir möchten von diesen Leuten vor allem Empfehlungen bekommen, was man ändern sollte. Deshalb können wir diese Bitte der Staatsanwaltschaft nicht erfüllen.
Wir haben einen Auftrag seitens des Kultusministeriums über den Landessportverband BW. Diesen können wir nicht erfüllen, wenn wir nicht einen persönlichen Eindruck bekommen.
Aber sitzt die Staatsanwaltschaft nicht am längeren Hebel und könnte Ihnen das Führen solcher Gespräche verbieten?
Pflieger: Verbieten im tatsächlichen Sinn geht nicht. Man kann natürlich den Eindruck erwecken, wir würden Ermittlungsverfahren kaputt machen. Aber das ist nicht unser Ziel. Wir haben zudem einen anderen Blickwinkel als die Staatsanwaltschaft. Diese versucht rückwärtsgewandt, Schuldige zu finden und je nachdem zu bestrafen. Wir hingegen suchen eben keine Schuldigen, sondern versuchen zu lernen, was man besser machen kann.
Gibt es denn eine Gesprächsbereitschaft von Sportlerinnen, Trainern und Funktionären gegenüber Ihrer AG?
Pflieger: Wir haben jetzt schon Hinweise, dass man mit uns reden will. Ich habe bereits erste Meldungen bekommen, wonach Turnerinnen, aber auch Angehörige der Sportlerinnen mit uns Kontakt aufnehmen und an dieser Arbeit mitwirken wollen. Ich hoffe, dass wir dadurch gute Ratschläge bekommen und auch einen Eindruck, wie Eltern mit dieser Konfliktsituation umgehen. Sie wollen möglichst erfolgreiche Kinder haben, müssen andererseits aber aufpassen, dass ihnen kein Schaden zugefügt wird.
Sie arbeiten im Auftrag des Landessportverbandes BW. Besteht da nicht ein Interessenkonflikt, wenn Sie auch die Arbeit der Sportfunktionäre unter die Lupe nehmen?
Pflieger: Es ist für uns unverzichtbar, auch mit Funktionären zu sprechen. Diese stellen die Weichen in Bezug auf Fördermittel, aber auch hinsichtlich der Kriterien, wie man menschlich miteinander umgeht und wo Dinge neu justiert werden müssen. Ich bin froh, dass wir in unserer AG einige Spezialisten auf diesem Gebiet haben.
Gibt es schon Gegenwind?
Pflieger: Ja, den gibt es. Da wird zum Beispiel die Zusammensetzung unserer AG kritisiert. Man kann bei jeder Arbeitsgruppe Defizite feststellen oder Gegenargumente finden. Aber wir brauchen Leute, die Erfahrungen haben auf diesem Gebiet. Diesen Gegenwind nehme ich als Staatsanwalt gelassen hin. Ich bin genügend Konfliktverteidigung gewöhnt. Es wäre verwunderlich, wenn uns alle nur auf die Schulter klopfen würden.
Die AG will vor allem die Strukturen des Turnsystems durchleuchten. Wo muss Ihrer Meinung nach angesetzt werden, um künftig Missbrauchsvorwürfe zu minimieren oder zu verhindern?
Pflieger: Ich denke, wir sollten vor allen an drei Stellschrauben drehen. Zum einen geht es um die Ethik. Wo gibt es im Hochleistungssport beim Kampf um Medaillen eine Grenze? Wo sind Mädchen im Alter von 12, 13 Jahren überfordert? Wo muss Schluss sein?
Der zweite Bereich ist das Thema soziale Kompetenz. Ich habe in meinem Beruf als Chef von Staatsanwaltschaften erlebt, dass nicht jeder gute Jurist automatisch ein guter Vorgesetzter ist. Man muss als Führungskraft auch die Fähigkeit haben, gut mit Menschen umzugehen. Hier geht es um die sogenannten Soft Skills. Ist jemand in der Lage, respektvoll mit Menschen umzugehen, zu begeistern und auf deren Belange Rücksicht zu nehmen? Das sollte bei Trainern und Funktionären in der Zukunft eine verstärkte Rolle spielen.
Als drittes kommt der Begriff Compliance hinzu. Compliance bedeutet, dass man in der freien Wirtschaft, in Firmen und Verbänden verstärkt Kontrollinstrumente einführt, damit sich die eigenen Mitarbeiter nicht strafbar machen und dass insbesondere kontrolliert wird, dass eigene Regeln eingehalten werden. Wir müssen also vielleicht neue Regeln schaffen, was Ethik oder Soft Skills betrifft, aber auch ein Kontrollinstrument einführen, damit diese Regeln auch eingehalten werden.
Wann will die Aufarbeitungs-AG Ergebnisse vorlegen?
Pflieger: Ich möchte im Juni einen ersten Bericht entwerfen. Dieser geht an den Landessportverband. Er wird unsere geplante Vorgehensweise, insbesondere auch die Problematik mit der Staatsanwaltschaft darstellen. Wir werden dazu eine klare Aussage machen. Grundsätzlich gilt: Wir können nicht ewig brauchen, man will Ergebnisse haben. Aber Schnelligkeit kann nicht allein das Ziel sein, es muss auch mit der erforderlichen Intensität gearbeitet werden. Vielleicht haben wir Ende des Jahres eine Perspektive, wann wir fertig werden könnten. Ich persönlich entscheide relativ schnell, aber es darf nicht fehlerhaft sein.