6 Uhr morgens. Die Sonne hat es noch nicht über die Baumwipfel am Dressur-Viereck auf St. Stephan in Framersheim geschafft. Und doch ist im Gestüt von Dorothee Schneider schon überall Leben. Die Pfleger wuseln zwischen den Boxen hin und her, die Dressurpferde stecken neugierig ihre Köpfe in die Gänge, und auf dem Hof steht mit offener Heckklappe der riesige, 12 Meter lange Spezialtransporter, mit dem es in den nächsten Minuten auf große Fahrt gehen soll. Das Ziel: Die Olympischen Spiele in Tokio.
"Ja, die Reise beginnt", sagt Dorothee Schneider gut gelaunt. Nebenbei verstaut sie die ersten Reisetaschen im Transporter. Alle, Vier- und Zweibeiner, spüren: jetzt geht es wirklich los. Selbst die erfahrene 52-jährige Dressurreiterin, die in Tokio ihre dritten Olympischen Spiele erleben wird, spürt die Spannung, die in diesen Momenten in der Luft liegt: "Das Adrenalin ist da, Aufregung, Herzklopfen, die Nackenhaare gehen hoch." Sie lächelt. Und schiebt noch schnell hinterher: "Alle Daumen drücken!"
Schock bei Pforzheimer Dressurtagen
Ein Wunsch, der sie auf dramatische Weise seit fast drei Monaten begleitet. Rückblick: Bei den Pforzheimer Dressurtagen im April bricht ihr Pferd Rock’n Rose urplötzlich zusammen und stirbt noch an gleicher Stelle. Die Ursache: ein Aorta-Abriss. Dorothee Schneider, die beim Zusammenbruch im Sattel saß, brach sich das Schlüsselbein und erlitt einen seelischen Schock, der tagelang nachwirkte. Zu sehr war sie mit dem erfahrenen Dressurpferd emotional verbunden, als dass sie den tragischen Tod einfach so schnell abhaken konnte.
Olympia-Ticket trotz Schlüssenbeinbruch
Das gebrochene Schlüsselbein war erstmal zweitrangig – und doch die große Herausforderung. Denn es waren nur noch wenige Wochen bis zur Olympia-Qualifikation der deutschen Dressurreiterinnen. Und durch die Verletzung konnte Dorothee Schneider längere Zeit nicht in den Sattel steigen. Olympia-Traum geplatzt? Die Goldmedaillen-Gewinnerin mit der Mannschaft in Rio ließ sich nicht unterkriegen. Erst leitete sie das Training ihrer Olympia-Pferde sitzend am Rand des Dressur-Vierecks, später wagte sie mit einer Spezial-Weste am Oberkörper wieder die ersten Reitversuche. Und es klappte. Dorothee Schneider holte sich ihr Tokio-Ticket. Der Traum lebt weiter.
Pferde erst in Quarantäne in Aachen, dann nach Tokio
"Das war schon eine Gratwanderung", gesteht die gelernte Pferdewirtschaftsmeisterin im Nachhinein ein. Und bleibt bescheiden: "Die Pferde haben mich super getragen in dieser schweren Zeit." Ihre zwei Besten: der 13-jährige Faustus und der zwei Jahre ältere Showtime – zwei Hannoveraner mit Erfahrung und immenser Ausdrucksstärke. Beide werden an diesem frühen Morgen in den Transporter gebracht, um dann nach Aachen in die vorgeschriebene einwöchige Quarantäne zu fahren. Erst danach geht es per Flieger nach Tokio – aber nur für einen der beiden braunen Wallache. Faustus ist als Ersatzpferd prophylaktisch dabei.
Die großen Medaillen-Hoffnungen ruhen auf Showtime. "Er ist ein Herzchen", sagt Dorothee Schneider und lacht. Sie schwärmt von seiner Doppel-Begabung: "Ein sehr liebes Pferd, vorsichtig im Umgang mit Menschen. Aber eben auch ein absoluter Leistungssportler: Er will sich bewegen, will sich präsentieren – eine Kombination, die einzigartig ist."
Pferde sind Transport gewöhnt
Die Heckklappe wird geschlossen, die Reise kann beginnen. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen: Ist die Fahrt nicht immer auch ein kleines Risiko? "Absolut", bestätigt Dorothee Schneider mit Blick auf Showtime und Faustus. "Jeder Transport ist eine gewisse Gefahr, aber die beiden Jungs kennen das schon, die fühlen sich da drin wie zuhause."
Strenge Hygienevorschriften für Ross und Reiter bei Olympia
Auch in Sachen Ansteckungsgefahr sind alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen worden. "Die Pferde sind grundimmunisiert, sowohl was Herpes angeht, wie auch Influenza. Alles dokumentiert im Impfpass", erzählt Dorothee Schneider. Und sie selbst? Hat sie keine Sorge bezüglich der angespannten Corona-Lage in Tokio? "Nein. Experten haben ein Hygienekonzept erstellt. Wir als Sportler leben in einer Blase zwischen Sportstätte und Hotel, haben zudem eine App auf dem Handy, die kontrolliert, wo wir sind", schildert die erfahrene Dressurreiterin. "Aber klar: es werden andere Olympische Spiele."
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Olympia-Teilnahme ist ein kleines Wunder
Dass sie dabei sein kann, erfüllt sie mit Stolz. Aber auch mit einem leichten Staunen, während sie höchstselbst den riesigen Transporter Richtung Aachen steuert. Denn dass Dorothee Schneider in Tokio überhaupt um olympisches Edelmetall mitreiten kann, erscheint nach dem Drama vom April wie ein kleines Wunder.