Um 5 Uhr in der Frühe klingelte das Telefon: "Junge, Kiew wird bombardiert", sagte die Stimme am andere Ende. "Mama, alles ist gut, das sind bestimmt Fakenews", beruhigte er seine Mutter in Mannheim. Doch als eine Viertelstunde später sein Onkel direkt aus der Ukraine anrief, drang die schreckliche Nachricht zu Mark Perelmann durch: In der Ukraine ist Krieg.
Und diese Nachricht traf den ehemaligen Weltklasse-Fechter verständlicherweise hart: "Ich bin erst einmal ins Zimmer und habe geheult", sagte er im Interview mit SWR Sport. Als er sich wieder gesammelt hatte, wanderten seine Gedanken durch die alte Heimat, von seiner Familie bei Kiew, die von dem plötzlichen Angriff aufgescheucht wurde, über seine Familie bei Sewastopol, die seit der Besetzung 2014 in relativer Sicherheit ist ("aber zu welchem Preis"), zu seiner Familie nach Russland, mit der er seit Jahren jegliche politische Diskussion meidet. "Das sind gute Menschen. Aber sie konsumieren russische Medien, und wenn wir diskutieren, stelle ich immer wieder fest, dass sie in einer völlig anderen Welt leben."
Perelmann in Sorge um die ukrainische Familie
Perelmann wurde 1994 in Kiew geboren und kam mit sieben Jahren nach Mannheim. Dort schloss er sich der FG Mannheim Neckarau an und lernte das Fechten. Als sich der Verein auflösen musste, wechselte er zur TSG Weinheim. Schließlich zog es ihn ins Rheinland, wo er 2019 ein VWL-Studium begann. Und nachdem er seine Profi-Karriere 2021 beendet hatte, "weil das mit Olympia leider nicht geklappt hat", ließ er sich von seinem alten Kumpel Peter Joppich überreden, doch nochmal das Florett in die Hand zu nehmen und für die Coblenzer Turngesellschaft anzutreten.
Doch nach Fechten war ihm am Donnerstag nicht zumute. Den ganzen Vormittag hatte er über Flucht-Routen und Asyl-Anträge nachgedacht. Aber die Flughäfen in der Ukraine sind zu, das Land hat den Flugverkehr eingestellt. "Ich bin völlig durch den Wind", sagt Perelmann. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat das Kriegsrecht ausgerufen. Das heißt, Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nicht mehr verlassen. Ein Teil seiner Familie sitzt also in der Ukraine fest.
Immerhin: Die Oma ist in Sicherheit. "Sie kam vor sechs Wochen zu Besuch, da hat noch niemand daran gedacht, dass mal russische Soldaten vor Kiew stehen." Wie lange sie noch bleiben kann? Menschen aus der Ukraine dürfen sich drei Monate ohne Visum in Deutschland aufhalten. Danach müssen sie theoretisch ausreisen. "Aber ich kann eine 81-jährige Frau ja nicht in ein Kriegsgebiet lassen."
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Perelmann sieht im Ukraine-Krieg ein "Kampf der Systeme"
Was also tun? Falls es keine Sonderregeln gibt, müsste sie zurück in die Ukraine und bei der deutschen Botschaft ein Visum beantragen. Unter den aktuellen Umständen scheint das eher utopisch. Die Europäische Union könnte eine Sonderklausel aktivieren, um Kriegsflüchtlinge in die EU zu lassen. Die Bundesregierung hat rechtlich die Möglichkeit, zur Not auch einen humanitären Alleingang zu starten. Bisher (Stand: 24.02.2022, 22:50 Uhr) ist beides nicht passiert. "Ich weiß es doch auch nicht", sagt Perelmann. "Aber die Frau hat den 2. Weltkrieg überlebt, die Sowjetunion und die 1990er Jahre in der Ukraine überstanden. Jetzt darf sie zum Abschluss nochmal Asyl in Deutschland beantragen - na herzlichen Glückwunsch. Das ist nicht gerade das, was ich mir für meine Oma gewünscht habe."
Das Leben, dass er seiner Oma stattdessen gewünscht hätte, hätte er auch der Ukraine gewünscht. "Ich war vergangenen Sommer in Kiew. Das Land, die Menschen, diese Energie - das war das Leben." Und dann wird er Grundsätzlich: "Seien wir realistisch: Die Ukraine ist kein perfektes Land. Korruption, Sozialsystem, Lebenstandard - alles nicht mit Deutschland zu vergleichen. Aber immerhin hatten die Menschen alle vier Jahre die Wahl, jemand anderem die Chance zu geben, es besser zu machen. Das kann man von Russland nicht behaupten." Das alles, so seine Sorge, wolle Wladimir Putin mit seinem Angriff zerstören. Diese Ansicht teilt er zumindest mit einigen westlichen Beobachtern. "Bis 2014 hat in der Ukraine niemand darüber nachgedacht, ob du ethnisch Ukrainer oder Russe bist. Du hast einfach gelebt, hast sogar beide Sprachen gesprochen. Und ich habe Angst, dass sich das nun nachhaltig ändern könnte."
Perelmann sieht Freundschaften in Gefahr
Perelmann sorgt sich aber nicht nur um die Ukraine. "Ich war für die Nationalmannschaft auf vielen Wettkämpfen, bin in der ganzen Welt herumgereist und war auch mindestens einmal im Jahr in Russland. Ich habe dort herzliche Menschen kennengelernt. Ich hatte nie ein Problem mit Russen. Und ich habe Angst, dass sich durch diesen sinnlosen Krieg nun alles ändern wird und sich plötzlich Leute hassen, die eigentlich gar keinen Grund dazu haben."