Sitzvolleyballer Martin Vogel sitzt im schwarzen Trikot der Nationalmannschaft auf dem Spielfeld, den grün-rot-weißen Volleyball hat er mit der linken Hand angeworfen, mit der rechten Hand hat er ausgeholt, um beim Qualifikationsturnier für die Paralympics 2021 in Tokio aufzuschlagen. (Foto: IMAGO, Beautiful Sports)

Paralympics | Sitzvolleyball

Sitzvolleyballer Martin Vogel: "Der Bauchschuss hatte auch etwas Gutes"

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Michael Richmann
SWR Sport-Redakteur Michael Richmann (Foto: SWR, Anna Spieth)

Martin Vogel liebte den Sport - bis ihm 1993 ein Amokläufer in den Bauch schoss. Mühsam kämpfte er sich zurück ins Leben und auf den Sportplatz. Bei den Paralympics in Tokio träumt er jetzt mit dem Sitzvolleyball-Team vom Einzug ins Halbfinale.

Martin Vogel wollte niemals zu den Paralympics. Lieber hätte der heute 49-jährige Esslinger auf die internationale Bühne verzichtet und weiterhin für die TG Nürtingen aufgeschlagen, würde alle paar Wochen nochmal die Turnschuhe einpacken, wenn in der vierten oder fünften Mannschaft Not am Mann ist, und würde auf eine persönlich wertvolle, für die Weltöffentlichkeit jedoch völlig belanglose Volleyball-Karriere in der Oberliga zurückblicken.

Doch 1993 zerstörte ein Amokläufer dieses Idyll. Vogel leistete zu dieser Zeit seinen Zivildienst in einer Nürtinger Psychiatrie. Der Täter täuschte vor, seine Frau besuchen zu wollen. In Wirklichkeit wollte er sie erschießen.

Die Kugel blieb in der Wirbelsäule stecken

Vogel begleitete den Mann arglos auf das Zimmer. Als er plötzlich seine Pistole zog, flüchtete sich die Frau ins Bad. "Und ich war dann halt übrig", sagt Vogel. Die Kugel drang in seinen Bauch ein und blieb anschließend in der Wirbelsäule stecken. Vogel hatte Glück: Organe wurden nicht beschädigt, die Ärzte konnten sein Leben retten. Doch sein rechtes Bein kann er seitdem nur noch eingeschränkt benutzen. Aus dem Volleyballer Martin Vogel wurde ein Para-Athlet, der sich im Sommer 2021 auf seine zweiten Paralympischen Spiele vorbereitet. "Insofern hatte der Bauchschuss auch etwas Gutes."

Vogel wollte nicht "behindert" sein

Das sagt Vogel heute. 1993 brach für den damals 21-Jährigen eine Welt zusammen. "L5-S1-Syndrom" heißt es, wenn der fünfte Lendenwirbel beschädigt ist und den Nervenstrang zum Bein abquetscht. Die Wadenmuskeln können nicht mehr angesteuert werden, das Fußgelenk ist gelähmt. Die Muskeln bildeten sich zurück. In kurzen Hosen wirkt es, als könne man die Wade mit Daumen und Mittelfinger umfassen. "Ich musste erstmal wieder laufen lernen", sagt Vogel.

Behinderten-Sport kam für ihn damals nicht infrage. "Mit denen wollte ich anfangs nichts zu tun haben. Ich war ja nicht behindert", erzählt Vogel und malt dabei mit den Fingern zwei imaginäre Anführungszeichen in die Luft. "Jedenfalls habe ich das lange von mir weggeschoben."

Vogel kämpfte sich über die vierte Mannschaft zurück ins Leben

Wer ihn heute in seinem Alltag auf dem Georgii-Gymnasium in Esslingen erlebt, braucht eine Weile, um festzustellen, dass der Englisch- und Geografie-Lehrer beeinträchtigt ist. Auch bei seinem wöchentlichen Ausflug ins Stuttgarter Kletterzentrum ist von einer Behinderung nicht viel zu merken, zu agil meistert er auch anspruchsvolle Strecken. So ging er erst einmal zurück zur TG Nürtingen. Nicht zur ersten Mannschaft, bei der er bis zu seinem Bauchschuss zu den Leistungsträgern zählte, sondern zur vierten. "Der Sport, der Verein, die Gemeinschaft - das alles hat mir ungemein geholfen."

Phnom Penh, Rio, Tokio

Erst 2006, mit 34 Jahren, ließ er sich auf das Werben des Behinderten-Sport-Verbands ein, wurde mit der Standvolleyball-Nationallmanschaft im selben Jahr Vize-Weltmeister in den Niederlanden, 2008 Weltmeister in der Slowakei, gewann dreimal den Weltcup (2007, 2009, 2011) in Kambodscha. Standvolleyball ist jedoch seit Sydney 2000 nicht mehr paralympisch. Als 2011 dann auch die übrigen internationalen Turniere gestrichen wurden, wechselte Vogel zunächst zum Beachvolleyball und zwei Jahre später zum Sitzvolleyball. Mit denen landete er 2016 bei den Paralympischen Spielen in Rio de Janeiro auf Platz sechs. "Der Behinderten-Sport hat mir auch Dinge ermöglicht, die mir als 'normaler' Sportler sicherlich versagt geblieben wären", meint Vogel im Rückblick auf die vielen Reisen und Turniere.

In Rio saß er jedoch bei allen vier Spielen auf der Bank. Das soll sich in Tokio ändern. "Ich bin viel näher an der Mannschaft, kann hart und präzise aufschlagen. Ich denke schon, dass ich in Tokio eine größere Rolle spielen kann, als noch vor fünf Jahren in Rio." Dafür hat sich Martin Vogel durch die Pandemie-Zeit mit Home-Schooling und Home-Training gequält. Hat sich fit gehalten, obwohl professionelles Training unter Corona-Bedingungen über Monate hinweg kaum möglich war. Teamkollege Magnus Fischer, den Bundestrainer Michael Merten zwar in seinen vorläufigen Kader berufen, dann aber doch nicht für die Paralympics in Tokio nominiert hat, schätzt vor allem Vogels Gelassenheit und Erfahrung: "Martin bringt Ruhe ins Team, an ihm kann man sich auch mal aufrichten. Und abseits des Feldes ist er auch immer für einen Scherz zu haben."

Vogel will in Tokio ins Halbfinale

Mittlerweile ist Vogel auch ganz froh "richtig" behindert zu sein. Denn beim Sitzvolleyball gibt es zwei Klassen von Behinderungen: minimal-behindert und behindert. Und weil in jedem Team immer nur ein Minimal-Behinderter auf dem Feld stehen darf, sind die Plätze im Kader rar. "Da hätte es sicherlich andere gegeben, die an meiner statt mit gedurft hätten." In Tokio trifft er mit der Nationalmannschaft auf China und Brasilien und den Iran.

Damit trifft Deutschland bereits in der Vorrunde auf den Gold-Favoriten. Denn der Iran gilt neben Russland und Bosnien-Herzegowina zu den besten Sitzvolleyball-Teams der Welt. "Das mag perfide klingen, aber die haben natürlich den 'Vorteil' diverser Kriege", erklärt Vogel. "Dadurch gibt es mehr Versehrte und dadurch ein größeres Reservoir an Athleten, aus denen die Nationaltrainer schöpfen können."

In beiden Ländern gibt es sogar Profi-Ligen. Doch auch Vogel fliegt am 19. August mit großen Ambitionen nach Tokio: "Ich will mit der Mannschaft ins Halbfinale. Danach ist viel möglich, vielleicht auch eine Medaille." In diesem Fall könnte sich Martin Vogel den nächsten Erfolg in die Vita schreiben - auf internationaler Bühne, bei den Paralympics, zu denen er eigentlich niemals wollte.

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