Anna-Maria Wagner (Foto: IMAGO, IMAGO / AFLOSPORT)

Post-Olympia-Depression

"Ich habe kaum mein Bett verlassen" - Judo-Weltmeisterin Anna-Maria Wagner kämpft um ihre Gesundheit

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Johannes Seemüller
Johannes Seemüller, SWR-Sportjournalist (Foto: SWR)

Anna-Maria Wagner (Ravensburg) wurde 2021 Judo-Weltmeisterin und gewann zwei Mal Bronze bei den Olympischen Spielen in Tokio. Dann rutschte sie in eine Post-Olympia-Depression, wollte sogar ihre Karriere beenden. Der Weg zurück auf die Wettkampf-Matte ist mühsam.

Sie klopft sich mit der linken Hand mehrmals fest auf die Brust und atmet tief durch. Dann sagt sie zu sich selbst: "Ich bin Anna-Maria Wagner. Ich bin die Nummer eins, und ich ziehe das Ding durch bis zum Schluss. Meine Medaille, mein letzter Kampf jetzt." Dann stößt sie einen Ur-Schrei aus und marschiert selbstbewusst Richtung Matte.

Diese Bilder gingen im Sommer 2021 um die Welt. Anna-Maria Wagner pushte sich vor einem Millionen-Publikum für ihren Bronze-Kampf bei den Olympischen Spielen in Tokio. Sie holte tatsächlich diese Medaille, obwohl sie kurz zuvor im Halbfinale den rechten Ellbogen überstreckt hatte, Innen- und Außenband waren angerissen. Auch im Team-Wettbewerb gewann sie Bronze. Sechs Wochen vorher war sie Weltmeisterin in der Klasse bis 78 Kilogramm geworden. Wagner war die erste deutsche Judo-Weltmeisterin seit 28 Jahren.

"Ich hatte die Schnauze voll"

Eigentlich hätte sie der glücklichste Mensch der Welt sein können. "Aber dann bin ich in ein Loch gefallen", erzählt sie im Gespräch mit SWR Sport. Die ersten zwei Wochen nach Tokio waren toll, sie wurde geehrt, gab viele Interviews, trug sich ins Buch ihrer Heimatstadt Ravensburg ein, "und dann kam - nichts."

Sie ging in die Reha, um ihre Verletzungen auszukurieren, doch schon da merkte sie: "Mein Körper und mein Kopf haben keinen Bock mehr auf Sport. Ich war einfach antriebslos. Ich hatte in den letzten Jahren wahnsinnig viel Energie liegen lassen. Mein Körper signalisierte mir, dass er Abstand vom Sport braucht. Ich wollte von Judo nichts mehr wissen. Ich hatte die Schnauze voll."

Keine Zeit zum Genießen

Wagner war nicht nur körperlich, sondern auch mental erschöpft. Fünf intensive Jahre lagen hinter ihr. Allein die interne Olympia-Qualifikation, der permanente Wettstreit mit Teamkollegin Luise Malzahn um das Ticket für Tokio, zog sich über drei Jahre. "Diese Jahre waren mental brutal." Der Druck war ihr ständiger Begleiter. Auch dank ihres Sportpsychologen Moritz Anderten konnte sie aber immer liefern.

Im Juni 2021 der Höhepunkt. Wagner wurde in Budapest Weltmeisterin, eine "krasse Überraschung". Doch zum Feiern und Genießen blieb keine Zeit. "Wir haben im Judo so viele Wettkämpfe, da war dieser WM-Triumph schnell abgehakt. Ich habe zwar mal eine Woche durchgeschnauft, aber dann galt meine volle Konzentration den Olympischen Spielen."

Anna-Maria Wagner jubelt nach WM-Titel (Foto: IMAGO, Imago)
Wagner jubelt nach ihrem WM-Triumph 2021

Wagner hing zwei Wochen in den Seilen

Nach Tokio aber streikten Körper und Seele. Wagner bekam eine "Post-Olympia-Depression", die auch schon andere Sportlerinnen und Sportler durchleiden mussten (siehe Infokasten). Das Thema Depression ist für Wagner nicht unbekannt. Auch in den vergangenen Jahren hatte sie gerade in der eher grauen Jahreszeit immer Wochen, in denen es ihr nicht gut ging. "Ich habe das im Training gemerkt, war nicht gut drauf und sehr sensibel. Es kam in jedem Jahr zum ähnlichen Zeitpunkt. Ich hing dann einfach durch."

Das Beklemmende: Wagner merkte, dass sie selbst an diesem Zustand nichts ändern konnte. "Eigentlich bin ich eine Frohnatur, die für jeden Spaß zu haben ist. Aber dann hängst du plötzlich zwei Wochen in den Seilen. Ich habe dem Bild, das ich von mir selbst habe, nicht entsprochen. Am liebsten hätte ich einen Schalter umgelegt, damit wieder alles gut ist; aber das funktioniert nicht."

"Ich weinte ohne Grund"

Die Post-Olympia-Depression nach den Spielen in Tokio hatte eine andere Dimension. Wagner fühlte sich oft antriebslos. "Ich hatte keine Lust, mich sportlich zu betätigen oder irgendwas zu unternehmen." Sie schlief nicht so gut wie sonst und fühlte sich am nächsten Morgen nicht erholt. An schlechten Tagen kamen die Tränen. "Ich weinte dann, ohne genau den Grund benennen zu können. Das passierte meist abends - und am nächsten Tag war das weg. Ich bin in solchen Phasen sehr sensibel."

Für die 25-Jährige ist es eine neue Erfahrung, "dass diese Höhen und Tiefen über einen längeren Zeitraum gehen. Es ging mir nicht permanent schlecht. Mal gab es eine schlechte Woche, aber dann ging es mir wieder gut." Sie erlebte durchaus tolle Momente, aber sobald diese vorbei waren, holte die Leere sie wieder ein. Die Lust und die Leidenschaft für ihren Sport waren wie weggepustet.

Das Umfeld hatte viel Verständnis

Diesen schweren Kampf um ihre mentale Gesundheit muss sie nicht alleine bestreiten. Sie spricht mit ihren besten Freundinnen und ihrem Sportpsychologen über ihren Erschöpfungszustand. "Von diesen Menschen weiß ich, dass sie mir guttun. Sie hören mir zu, verstehen mich und helfen mir, durch diese Zeit zu kommen. Ich fühle mich sehr gut aufgehoben." Auch Frauen-Bundestrainer Claudiu Pusa zeigt Verständnis. "Anna, nimm dir Zeit", habe er zu ihr gesagt. "Er hat mir nie Druck gemacht. Ich habe das alles selbst in der Hand."

Um den Jahreswechsel ging es der Top-Athletin wieder besser. Im Urlaub in Miami/Florida fühlte sie sich zum ersten Mal "richtig, richtig gut", strahlt sie. "Ich hatte wieder Spaß am Sport und dachte: Jetzt hast du es geschafft und das Tief überwunden."

"Ich habe kaum mein Bett verlassen"

Aber dann kam der nächste Rückschlag. Wagner wurde am 3. Januar positiv auf Corona getestet. Sie musste 14 Tage in Quarantäne. "Das hat mir so richtig den Boden unter den Füßen weggezogen." Körperlich ging es ihr gut, sie hatte nur etwas Schnupfen, aber mental fiel sie in ein Loch. Sie war allein in ihrer Wohnung; dabei ist sie ein Mensch, der nicht so gern allein ist. "Ich habe in den ersten sieben Tagen kaum mein Bett verlassen. Ich lag einfach nur da und habe nichts gemacht. Ich war sauer und traurig, dass dieses Jahr so beschissen angefangen hat."

Ihr kam der Gedanke, mit dem Leistungssport aufzuhören. "Vielleicht soll es gar nicht mehr sein, dass ich weitermache," dachte sie. "Womöglich geht es mir besser, wenn ich aufhöre."

Positive Reaktionen für ihren offenen Umgang mit der Depression

Sie begann, ihre Gedanken in Worte zu fassen. Sie schrieb alles auf und veröffentlichte, nach Rücksprache mit ihrem Sportpsychologen, ihre Geschichte in den sozialen Netzwerken. "Viele Leute wussten nicht, was in mir vorging. Sie kannten nur die schönen Seiten und meine Medaille. Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch meine mentale Gesundheit, und da war ich angeschlagen." Als Weltmeisterin fühlt Wagner eine Verantwortung für den Judo-Nachwuchs. "Mir war es wichtig, die Leute zu sensibilisieren, dass so etwas auch dazu gehören kann. Es ist keine leichte Phase, aber sie wird wieder vorbei gehen."

Anna-Maria Wagner postet über ihre mentale Krise

Die Reaktionen auf ihren offenen und ehrlichen Umgang mit dem Thema mentale Gesundheit sind durchweg positiv. "Es ist krass, wie viele Leute mir geschrieben haben", erzählt sie. "Auch Sportler:innen, denen es genauso geht, die darüber aber nicht öffentlich sprechen möchten."

Ihre offene Kommunikation hilft ihr bei der Bewältigung der Krise. Wagner ist kein Mensch, der alles in sich reinfrisst. "Diese Offenheit hat mir in dieser schwierigen Zeit unglaublich gutgetan. Sie hat auch das gegenseitige Vertrauen zu meinen Freundinnen oder meinen Trainern noch einmal vertieft."

Langsam raus aus der Depression

Am Vormittag hat sie eine Trainingseinheit an ihrem Wohnort Köln absolviert. Der geregelte Tagesablauf tut ihr gut. "Ich versuche, wieder Spaß zu finden und irgendwann meine alte Form zu erreichen", sagt sie. Als Nahziel möchte sie Ende März wieder auf der Wettkampfmatte stehen.

Längerfristig möchte sie momentan aber nicht planen. Dazu ist ihr Zustand noch zu instabil. "Ich bin noch nicht ganz über den Berg. Ich habe immer noch schlechte Tage, und die Begeisterung für den Sport fehlt."

Noch ist unklar, wohin die sportliche Reise der 25-Jährigen gehen wird. Vielleicht ist das momentan aber auch nicht wichtig. Ihre Gesundung steht an erster Stelle. "Ich bin sicher, dass ich als stärkere Person aus dieser Phase herauskomme", sagt sie zum Schluss. Sie klingt so entschlossen wie damals vor dem Bronze-Kampf in Tokio.

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Johannes Seemüller, SWR-Sportjournalist (Foto: SWR)