Und wieder flimmern diese Bilder stakkatoartig vor meinen Augen. Die Ecke von links, der Kopfball von Endo, der Sprint von Matarazzo, der Luftsprung von Mislintat, die Ekstase in der Arena, der Platzsturm auf dem Rasen.
Im Gedächtnis läuft alles noch mal von vorne ab. Immer wieder. Und kopfschüttelnd kommt die Erkenntnis: Es gibt im Fußball nichts, was es nicht gibt. Das hat sich mir in meiner jahrezehntelangen Zeit als Sportreporter tief eingeprägt. Die herzzerreißende Vier-Minuten-Meisterschaft der Schalker 2001 oder auch die dramatische Bundesliga-Abstiegskonferenz ein Jahr zuvor, emotionale Momente wie diese werden ewig im Gedächtnis haften bleiben.
Rettung oder Relegation? Oder noch tiefer...?
Genauso verhällt es sich auch mit diesem denkwürdigen 14. Mai 2022. Selbst das Wetter an diesem Tag ist bei mir noch präsent. Ein sonniger Bundesligasamstag in Stuttgart. Letzter Spieltag, und einmal mehr Dramatik pur im Abstiegskampf. Und wieder ,wie so oft in den vergangenen Jahren, der VfB mittendrin im Stress und Schlamassel.
Die Stuttgarter Arena ist rappelvoll, jeder mit dem roten Brustring im Herzen will natürlich dabeisein, wenigstens von draußen mithelfen. Und Hilfe ist bitternötig, Schwabens Fußballstolz steht vor dem Anpfiff gegen den 1. FC Köln auf Relegationsplatz 16, es droht im schlimmsten Fall sogar noch Platz 17 und der direkte Absturz in die zweite Liga. Falls Bielefeld deutlich gegen Leipzig gewinnt, der VfB hoch gegen Köln verliert. Es ist eine Horror-Vision für Stuttgart. Die Konstellationen gehen mir immer wieder durch den Kopf.
Stuttgart muss gewinnen, Hertha muss verlieren
Meine Aufgabe an diesem Tag: Die emotionale Nachberichterstattung für die Radiowellen der ARD und des SWR. Mein Gefühl ist zunächst richtig gut. Gespannte Erwartung, aber ruhig Blut. Denn das könnte doch noch klappen mit der Last-Minute-Rettung und dem Sprung auf Platz 15, denke ich mir. Zumal Konkurrent Hertha BSC, drei Zähler besser auf Platz 15, in Dortmund die kniffligere Aufgabe vor sich hat. Gewinnt der VfB und verlieren die Berliner, dann zieht Stuttgart vorbei auf die 15 und bleibt sicher drin. Aber nur dann.

Der Kölner Ausgleich schockt den VfB
Rettung, Relegation oder Abstieg? Alles ist möglich. Nach elf Minuten schießt bei allen die erste Gefühlswallung ins Blut: Elfer für den VfB, den Sasa Kalajdzic verballert. Verzweiflung in Stuttgart. Aber nur für Sekunden, weil gleich darauf der Österreicher seinen Patzer wettmacht und zum 1:0 einköpft. Die Arena bebt. Die Hoffnung lebt.
Für VfB-Frust sorgt aber schon ein paar Minuten später die überraschende Berliner Führung in Dortmund. Das darf nicht wahr sein, denke ich mir. Schenkt Dortmund einfach ab?
Nervenspiel zweite Hälfte
Die zweite Hälfte jedenfalls wird auch für mich zum reinen Nervenspiel, weil Stuttgart zur "Drama-Queen" wird. Feuchte Hände, Nägelkauen, Haareraufen. Nach einer knappen Stunde der nächste Schwaben-Schock: Modeste gleicht zum Kölner 1:1 aus. Lähmendes Entsetzen in Cannstatt. Der VfB ist zu diesem Zeitpunkt auf dem Relegationsplatz festgetackert. Fünf Punkte sind es auf Berlin, Stuttgart blickt in den Abgrund. Aber ich kann mich noch gut erinnern, wie ich in diesem Moment trotzig zu den Kollegen sage: Das ist noch nicht zu Ende, da passiert noch was.
Dortmunder Schützenhilfe gegen Hertha BSC
Und der Wahnsinn nimmt tatsächlich seinen Lauf: In Dortmund gleicht die Borussia gegen die Hertha durch Haaland zum 1:1 aus. Diese 68. Minute gibt Stuttgart neue Hoffnung. Dreht der BVB das Spiel doch noch und leistet die nötige Schützenhilfe für den VfB? Genau das passiert. Sechs Minuten vor dem Ende macht Jungstar Moukoko das Dortmunder 2:1.
Ein Jubelschrei geht durch die Stuttgarter Arena, als der Treffer von Dortmund bekannt wird. Jetzt sind's nur noch zwei Punkte bis Berlin. Der VfB ist wieder im Spiel um Platz 15, braucht aber noch den eigenen Siegtreffer gegen Köln, um vorbeizuziehen. Die Uhr tickt. Sekunde um Sekunde. Stuttgart wirft alles nach vorne mitsamt Keeper Müller, den es nicht mehr in seinem Gehäuse hält.
Der Last-Minute-Endo trifft doch noch
Dann dieser magische Moment in der zweiten Minute der Nachspielzeit, bei allen Beteiligten, Ohren- und Augenzeugen ist er auf ewig ins Gedächtnis eingebrannt: Eckball Stuttgart. Der eine Japaner Ito verlängert zum anderen Japaner Endo. Der Kapitän wirft sich mit letztem Willen in den Ball und köpft das 2:1 für den VfB. Unfassbar. Jetzt explodiert alles, das ist die Rettung auf den letzten Drücker.

Wilde Ekstase nach dem Siegtreffer von Endo
Was danach passiert, habe ich im Sport nur ganz selten in dieser Emotionalität erlebt. Es ist wie ein Rausch der Gefühle. Wilde Freudenszenen auf den Tribünen und auf dem Platz. Die Arena bebt, die Luft vibriert, ein Lärmpegel wie beim Start eines Düsenjets. Sportdirektor Sven Mislintat stößt seinen Körper samt Siegerfaust in die Luft, Trainer Pellgrino Matarazzo sprintet Richtung Eckfahne. Und mit dem Abpfiff setzt ein Platzsturm ein. Tausende VfB-Fans stürmen den Rasen, feiern mit den Spielern den Klassenerhalt. Endo gut, alles gut.
Ich atme erstmal tief durch und gehe an meine Arbeit. Emotionen, Stimmen und Stimmungen sammeln und das schier Unmögliche versuchen: Den ARD- und SWR-Radiowellen wenigstens einen kleinen Teil von dem zu Gehör zu bringen, was an diesem Bundesligasamstag beim VfB passiert ist. Der Last-Minute-Wahnsinn von Stuttgart, mein Sportmoment 2022. Verbunden mit der alten Erkenntnis: Es gibt im Fußball nichts, was es nicht gibt...