Ja, auch ich habe mich beim Jubeln erwischt. An diesem Samstag, in diesem Spiel, in diesem Stadion ging das gar nicht anders. Dazu musste man kein Fan des VfB Stuttgart sein. Es war absolut mitreißend und ja, ich hatte Gänsehaut. Es hat mich wirklich beeindruckt, wie sich diese Mannschaft an den letzten beiden Spieltagen noch einmal rausgezogen hat aus dem selbstgemachten Sumpf.
Hat der VfB doch mehr richtig als falsch gemacht?
Dieser Gefühlsausbruch bei Fans und Mannschaft war total nachvollziehbar. Allerdings kam mir schon die Frage in den Kopf, was machen die eigentlich, wenn sie mal wieder einen Titel holen? Oder anders gefragt: Ist der Klassenerhalt beim VfB Stuttgart jetzt die neue Meisterschaft?

Sven Mislintat scheint meine Gedanken gelesen zu haben. Aber der VfB-Sportvorstand weiß ja sowieso, dass nicht nur ich diese Gedanken hatte. Am Tag nach der großen Sause stellte er im SWR-Interview klar, dass andere Ziele als der Klassenerhalt nur möglich seien, wenn andere wirtschaftliche Rahmenbedingungen geschaffen würden. Das ist unmissverständlich. Als Ausrede hat er es nicht benutzt. Das ist beruhigend. Als ich also gerade zur Bodenhaftung mahnen will, erwische ich mich bei dem Gedanken: Mensch, der VfB hat vielleicht doch mehr richtig als falsch gemacht.
Entwicklung im Stillstand
Ein bisschen zu oft wurde für meinen Geschmack der Saisonverlauf auf die lange Verletztenliste geschoben. Natürlich wurden vor allem Sasa Kalajdzic und Silas schmerzlich vermisst. Dass das zwar ein großer, aber eben nur ein Grund war, stellte Mislintat jetzt noch mal klar. Auch das, beruhigend.
Nach Platz neun als Aufsteiger in der Saison 2020/21 sind im letzten Sommer mit Nicolas Gonzalez und Gregor Kobel zwei Leistungsträger gegangen. Rückschritte in der Entwicklung und Qualitätsverlust sind für Mislintat da selbstverständlich. Und auch hier schneidet er mir die Worte ab, bevor ich mich über den Stillstand bei Spielern wie Mangala, Coulibaly oder Klimowicz wundern kann.
Auch das also: unmissverständlich. Auch das keine Ausrede, aber eine Erklärung. Gleichzeitig eine sehr frühe Vorwarnung die neue Saison betreffend. Wegen der Finanzlage nach Corona werden möglicherweise mit Borna Sosa und Sasa Kalajdzic wieder zwei Leistungsträger gehen. Sie werden wieder Geld in die VfB-Kassen spülen. Und trotzdem ist schon jetzt wieder der Klassenerhalt als Ziel ausgerufen worden? Wir haben zwar alle keinen Einblick in die Bücher der Bundesligisten, aber die Frage sei erlaubt: haben zum Beispiel Union Berlin oder natürlich der SC Freiburg so viel mehr Geld als Stuttgart?
Schöngeredet oder konsequent?
Worauf ich hinaus will? Wird zu viel zu defensiv schön geredet. Oder ist das der Realismus des VfB Stuttgart im Jahr 2022? Dann wäre das für mich im Hier und Jetzt wirklich ein gutes Ende. Denn ich feiere den VfB dafür, konsequent geblieben zu sein. Realität statt große Träumereien. Sich nicht von den Erfolgen der Vergangenheit - der lang zurückliegenden erfolgreichen Vergangenheit - blenden lassen. Kontinuität auch in der Krise. Kein panischer Trainerrauswurf, kein internes Zerfleischen. Stattdessen Vertrauen. Und Festhalten an einem Weg, der nicht immer von allen verstanden und vor allem immer von vielen kritisiert oder zumindest hinterfragt wird.
Das habe ich im Winter auch gemacht. Als der VfB schon dick im Abstiegskampf steckte, als mit Tiago Tomas der nächste 19-Jährige "mit Potential" geholt wurde. Und kein erfahrener Spieler als Stütze für dieses junge Team. Tomas hat mit vier Toren seinen Teil zum Klassenerhalt beigetragen. Vielleicht machen sie beim VfB eben doch mehr richtig, als 33 Punkte in 34 Spielen widerspiegeln.