Die VfB-Fans zwischen Entrüstung und Empörung in Berlin (1:2-Niederlage). (Foto: IMAGO, IMAGO / Beautiful Sports)

Fußball | Meinung

Zwischen Sankt Martin und Favoritenstresser - die zwei Gesichter des VfB Stuttgart

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Michael Bollenbacher

Die Leistungsamplitude des VfB Stuttgart schlägt stark in beide Richtungen aus. Die Schwaben treiben Topteams ans Leistungslimit - und gegen Abstiegskandidaten die eigenen Fans regelmäßig in den Wahnsinn. Welches Gesicht zeigt der VfB gegen Leverkusen?

"Typisch" war das Wort, auf das man in VfB-Kommentarspalten nach dem bitteren 1:2 bei Hertha BSC häufig stieß, und das dem gemeinen VfB-Fan offenbar übel aufstieß. "Typisch VfB halt", "Wann hört das endlich auf?" oder "Was erlaube VfB?" - in Anlehnung an einen früheren Trainer der Schwaben - mochten passende Verzweiflungsrufe so mancher Anhänger des Bundesligisten aus Cannstatt gewesen sein nach dem vergurkten Spiel in der Hauptstadt. Und das Wort "typisch" trifft es irgendwie auch ganz gut.

Das Pokalspiel gegen Frankfurt hat "mental und körperlich enorm gezogen"

Denn dieser VfB Stuttgart hat in der laufenden Spielzeit, in bislang also 31 von 34 absolvierten Bundesligaspielen, ein ausgeprägtes Talent dazu, an großen Tagen gegen große Teams auch mal großen Fußball zu zeigen, an miesen Tagen gegen sonst eher miese Teams aber auch ziemlich miesen Fußball. Den Stuttgartern hängt eine gewisse Unberechenbarkeit an - in beide Richtungen.

Als Musterbeispiele negativer Art gelten dabei die 1:2-Niederlage samt peinlicher erster Halbzeit auf Schalke im Februar. Das Ganze nach einem 3:0-Heimsieg gegen den 1. FC Köln. Auf das umjubelte 2:1 samt Elfmeter-Ekstase gegen Mönchengladbach gab es vor einer Woche eben jenen unterdurchschnittlichen Auftritt beim 1:2 in Berlin. Die Hertha war vorher fünf Spiele sieglos, Schalke im Februar sogar vier Spiele ohne eigenes Tor (!) geblieben.

Die Rückschläge ziehen sich durch die Saison wie Kaugummi an der Schuhsohle

Mannschaften am Boden versetzt der VfB nicht den letzten Stoß Richtung Abgrund, sondern reicht ihnen bildlich gesprochen den Mantel wie einst Sankt Martin dem armen Bettler. Getreu dem Motto "Hier, ich helfe dir hoch, es ist noch nicht vorbei!" Ähnlich zu sehen war dieses Phänomen, wenn auch gegen eher mittelklassige Gegner, beim 0:2 gegen Bremen im Februar, beim 1:3 in Mönchengladbach in der Hinrunde oder auch beim leblosen 0:1 gegen Wolfsburg im März.

Dass der Hoeneßsche Höhenflug mit fünf ungeschlagenen Spielen in Folge bereits vor Berlin einen Dämpfer durch das verlorene Pokalhalbfinale gegen Frankfurt erhalten hatte, sollte dabei selbstverständlich nicht außer Acht gelassen werden. Das Spiel gegen die Eintracht habe "mental und körperlich enorm gezogen", so Trainer Sebastian Hoeneß. Und dennoch: Egal, ob der Trainer nun Matarazzo, Wimmer, Labbadia oder Hoeneß heißt: Empfindliche Rückschläge ziehen sich durch die VfB-Saison wie zäher Kaugummi an der Schuhsohle.

Doch der VfB ist auf der anderen Seite auch in der Lage, quasi Unmögliches möglich zu machen. Als Musterbeispiel positiver Art steht allen voran das schier unglaubliche 3:3 gegen Borussia Dortmund nach 0:2-Rückstand und mit einem Feldspieler weniger. Mit attraktivem Fußball und einer riesigen Moral nervten die nimmermüden Stuttgarter den haushohen Favoriten. Dazu kommen achtbare Unentschieden zuhause gegen Leipzig (1:1) und in München (2:2), damals noch unter Pellegrino Matarazzo. Selbige Gegner forderten die Stuttgarter auch im Rückspiel - wenn auch ohne Punkteausbeute (jeweils 1:2).

Hoeneß teilt Erwartungshaltung nicht

Der vierte Trainer der Saison also, Sebastian Hoeneß, versuchte das Phänomen am Donnerstag auf der Pressekonferenz vor dem wichtigen Heimspiel gegen Bayer Leverkusen (Sonntag, 15.30 Uhr) einzuordnen, spricht von Dingen wie "Erwartungshaltung", die er nicht teile. Dass der VfB mal eben nach Berlin zu einer Mannschaft fahre, "die am Boden ist" und sie mal kurz mit links weghaue. Das Spiel gegen Hertha, das insgesamt siebte seiner Stuttgarter Amtszeit, war laut Hoeneß "das anspruchsvollste Spiel bisher, auch in der Vorbereitung".

Arrogant sei seine Mannschaft aber keinesfalls aufgetreten, auch wenn man Dinge hätte besser machen müssen. Man müsse jedenfalls aufpassen, so Hoeneß, "dass wir jetzt nicht einerseits sagen: 'Boah, was für 'ne Moral und die Mannschaft ist in der Lage, aus schwierigen Situationen super Reaktionen zu zeigen' und dann ist 'ne Woche später alles weg. Nein, ist es nicht!"

Daher habe er sie geschützt. Das ist menschlich und verständlich. Doch ist fehlende mentale Frische gepaart mit den Personalausfällen von Dinos Mavropanos und Atakan Karazor der finale Erklärungsansatz, warum man gegen Hertha BSC (mal wieder) unterperformt hat und - mal wieder - die Überzeugung fehlte? Oder die Erklärung, warum Borna Sosa wie gegen Schalke gegen Berlin defensiv erneut nicht auf der Höhe war? Man dreht sich bei der Suche nach Gründen im Kreis, sucht die Nadel im Heuhaufen.

Was kommt gegen Europa-League-Halbfinalist Bayer Leverkusen?

Was sicher ist: Am Sonntag kommt mit Leverkusen wieder ein Topteam nach Stuttgart. Was hat der VfB diesmal parat gegen die konterstärkste Mannschaft der Liga, die zuletzt 19 von 24 möglichen Punkten in der Liga sammeln konnte, durch das Europa-League-Halbfinale gegen AS Rom aber eventuell etwas sprintschwächer daherkommen könnte als sonst?

War Hertha wieder nur ein kleiner Tiefschlag und der VfB punktet überraschend gegen Bayer? Und rettet sich gar wie 2022 mit furiosem Finish gegen Ex-Trainer Matarazzo? Oder liegt das Ganze doch tiefer und es war vielleicht alles in allem am Ende ein Rückschlag zu viel?

Der Saisonausgang des VfB Stuttgart scheint jedenfalls selbst für gewiefte Tippscheinfüller ähnlich schwer vorauszusagen sein zu sein wie einen Sechser im anderen Glücksspiel. Aber vielleicht macht ja genau das den Reiz für den ein oder anderen Fan aus. Denn langweilig wird es mit diesem Verein nicht.

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