Schon weit vor der Indoor-Fußballhalle hört man laute Trommeln. Ich gehe hinein und der Lärm wird ohrenbetäubend. In dem Getöse mache ich spanische Gesänge aus. Einer der Kunstrasenplätze des SoccerOlymp in Fellbach ist himmelblau-weiß; er ist voller argentinischer Fans. Ich bin in Fellbach, um über ein argentinisches Public Viewing beim WM-Finale Argentinien zu berichten.
Hier feiern die Argentinier ihre Mannschaft, ihre Kultur und ihre Gemeinschaft. Zusammen holen sie ihre Heimat nach Fellbach. Damit trotzen sie für mich der gekauften WM in Katar, für die Menschen gestorben sind, und werden für mich so zum Sportmoment des Jahres. Denn die Argentinier in Fellbach stehen für mich für den wirklichen Fußball.
Der wirkliche Fußball
Wie ich das meine: Als ich mit auf den Weg nach Fellbach zum WM-Finale mache, treffe ich meinen indischen Mitbewohner Harshal. Er und mein japanischer Mitbewohner Yuya wollen gemeinsam in der Küche gucken – beide sind große Messi-Fans und wünschen sich den Titel für Argentinien. Ich erzähle ihm von Fellbach, er überlegt mitzukommen, ist aber zu faul. In der Halbzeit schicke ich ihm Bilder vom Public Viewing und frage, ob sie nicht doch aufraffen können. Nach dem Schlusspfiff zieht eine argentinische Polonaise durch die Fußballhalle. Mittendrin: Ein Inder und ein Japaner, die heiser geschrien sind.
Lateinamerikanische Mentalität wider die WM-Müdigkeit
Wie bei fast jedem Fußball-Fan waren für mich Weltmeisterschaften immer das Größte. Und wie bei fast jedem Fußball-Fan war meine Vorfreude bei dieser WM kaum vorhanden. Bei den Umständen in Katar? Keine Chance! Auch die deutsche Nationalmannschaft und der moderne Fußball sind schuld. Dementsprechend habe ich dieses Turnier so gleichgültig wie noch nie verfolgt - bis zum WM-Halbfinale Argentinien gegen Kroatien. Hier beginnt mein Sportmoment des Jahres.
Beim Halbfinale bin ich zum ersten Mal in der Fußballhalle in Fellbach und begleite den 3:0-Sieg der Argentinier. Der Organisator Dominic Sessa zeigt mir, was Gastfreundschaft in Argentinien bedeutet. Er tut alles dafür, dass ich die besten Bilder bekomme und steht mir Rede und Antwort. In der Pause bietet er mir sogar Choripán und Chimichurri an, ein Sandwich mit Chorizo und Kräutersauce. Dominic will, dass ich die argentinische Kultur kennenlerne – und was Fußball für sie bedeutet.
"Es ist wie in Argentinien."
Nach dem Spiel wird das noch deutlicher. Viele Argentinier kommen zu mir und wollen ein Interview geben. Francisco bittet mich etwas sagen zu dürfen, am liebsten vor einer Fahne, die Messi und Maradona zusammen zeigt. Er erzählt, dass er erst nach Deutschland gekommen ist und wie glücklich es ihn macht, in Fellbach mit seinen Landsleuten zusammen sein zu können: "Ich dachte, sowas gibt es hier nicht. […] Es ist wie in Argentinien." Eins ist klar: Für das Finale werde ich mit SWR Sport wieder hier sein.
Die Nationalmannschaft hält Argentinien zusammen
Im Vorfeld informiere ich mich mehr über die Albiceleste. Sie ist der soziale Klebstoff einer gespaltenen Gesellschaft. Die Grenze zwischen Arm und Reich in Argentinien ist gewaltig, doch die Nationalmannschaft verbindet und spendet Trost. Auch weil die Spieler selbst aus unterschiedlichen Landesteilen und sozialen Umfeldern kommen. Lionel Messi stammt aus dem wohlhabenderen Süden, der Torhüter des Turniers Emiliano Martínez aus ärmlichen Verhältnissen bei Buenos Aires.
Beim Fußball gibt es in Fellbach keine Unterschiede. Die Tür der Fußballhalle ist offen für jeden, der Eintritt frei. Für das Finale kommen doppelt so viele Zuschauer wie zuvor: 500 Argentinier, deren Freunde, meine Mitbewohner und Kollegen vom SWR, die sich die Szenen selbst ansehen wollen. Die Stimmung ist bereits vor Spielbeginn überragend. Mein Kollege Markos hat Angst, dass seine Live-Schalte in den Nachrichten nicht klappen wird; er versteht sein eigenes Wort nicht.
Buenos Aires in Fellbach
Kann das noch getoppt werden? Noch ahne ich nicht, dass mein Sportmoment des Jahres bevor steht. Es folgt das beste WM-Finale meines Lebens. Messi zaubert, die Argentinier spielen stark und gehen früh in Führung. Es scheint wieder alles klar zu sein, Fellbach feiert schon zur Halbzeit. Doch Frankreich kommt kurz vor Schluss aus dem Nichts zurück. Die Verlängerung ist ein manisch-depressives Wechselbad. Natürlich muss das Elfmeterschießen her. Als Gonzalo Montiel den entscheidenden Elfer verwandelt, gibt es kein Halten mehr. Die Argentinier singen, trommeln und tanzen wie in Buenos Aires. Ein Mann im Napoli-Trikot Maradonas weint mir in die Schulter. Dominic Sessa umarmt mich und ruft: „Wir sind Weltmeister!“
Dabei blenden die Argentinier die Umstände der WM nicht aus. Als Gianni Infantino für die Siegerehrung den Rasen betritt, schwenkt die Stimmung augenblicklich um; der FIFA-Präsident wird gnadenlos ausgepfiffen. Sie lassen sich ihren dritten WM-Titel, Messis Krönung und was das für sie bedeutet, nicht wegnehmen von Korruption und Kommerzialisierung. Als Messi denn WM-Pokal in die Höhe stemmt, rasten die Argentinier wieder aus. Das Public Viewing verwandelt sich in ein Volksfest. Vor der Leinwand legen die Argentinier lateinamerikanische Tänze auf den Kunstrasen, während im Hintergrund im Fernsehen inzwischen der Tatort läuft. Unsere Berichterstattung endet mit der Pokalübergabe, doch ich bleibe noch. Ich will noch etwas Fußball erleben.