Ich musste kräftig schlucken. Ich hatte einen Kloß im Hals. Die Bilder, die ich sah, berührten mich. Da standen die Spieler des Iran Arm in Arm auf dem Rasen des Ahmad bin Ali Stadions, als ihre Nationalhymne abgespielt wurde. Beim ersten Vorrundenspiel gegen England hatte kein einziger Profi aus Protest gegen das heimische Regime mitgesungen. Jetzt bewegten manche Iraner ihre Lippen, die einen mehr, die anderen weniger - auf jeden Fall aber ohne Überzeugung. Was für eine Spannung lag in ihren Gesichtern. Ich meinte, sogar im 4500 Kilometer entfernten Deutschland die innere Zerrissenheit dieser Männer zu spüren.
"Es zerreißt einem das Herz"
Auch ARD-Reporter Florian Naß, der das Spiel vor Ort kommentierte, nahmen diese Bilder mit. "Es zerreißt einem das Herz", sagte er hörbar bewegt. "Haben Sie das Tattoo gesehen? 'Love me for who I am' - genau das ist es." Die Kamera blieb groß auf diesem Schriftzug, der den Arm von Bundesliga-Profi Sardar Azmoun ziert. Der Spieler von Bayer Leverkusen hatte sich schon vor der WM mehrfach öffentlich mit den Protestierenden in seinem Heimatland solidarisiert. Jetzt zeigte er das Tattoo erneut der weltweiten Öffentlichkeit.

Auf den Tribünen weinten iranische Fans herzzerreißend - Männer und Frauen. Selten hat man in einem Fußballstadion so viele Tränen der Rührung gesehen. Innerhalb von gut 60 Sekunden wurde während des Abspielens der Hymne ein starkes emotionales Band zwischen den Spielern und den Anhängern geknüpft. Die Fans, von denen etliche auf ihren T-Shirts politische Botschaften trugen, schienen extrem dankbar zu sein für die Solidarität der iranischen Nationalspieler mit den Frauen, Studenten und weiteren Regierungskritikern in ihrem Heimatland. Diese gehen seit über zwei Monaten gegen das Mullah-Regime und die Unterdrückung der Frauen auf die Straße.

Spieler müssen um Karriere und ihre Familien fürchten
Ich lebe in einem freien Land, in dem ich meine Meinung sagen kann, ohne mit drastischen Konsequenzen rechnen zu müssen. Deshalb kann ich nur ganz entfernt nachempfinden, mit welch großer Anspannung und mit welchem Druck die Spieler des Iran heute in das Spiel gegangen sein müssen. Zumal nach dem deutlichen politischen Signal beim England-Spiel von drohenden Sanktionen seitens der iranischen Regierung berichtet worden war. Wie schnell es gehen kann, musste jetzt der ehemalige iranische Nationalspieler Voria Ghafouri erfahren. Der 35-Jährige wurde wegen angeblicher Propaganda gegen das iranische Politsystem und wegen Beleidigung der Nationalmannschaft verhaftet.
Auch die mutigen Spieler, die bei dieser WM ihr Land vertreten, müssen sich nach ihren politischen Aktionen nicht nur um ihre Karrieren sorgen, sondern auch um das Wohl ihrer Familien in der Heimat. Diese und noch viele andere Gedanken hatten die Spieler sicherlich im Hinterkopf, als sie in die Partie gegen Wales gingen. Umso unfassbarer für mich, wie souverän die Iraner trotzdem aufspielten - und 2:0 gewannen.
Nach dem heutigen Spiel steht für mich fest: Der Iran ist Weltmeister der Herzen.