Interview mit Verkehrspsychologin Prof. Angela Francke

"Beleidigende Kommentare meist von Autofahrenden"

Stand
INTERVIEW
Sabrina Marschall

Fast 9.000 Facebook-Kommentare unter den Beiträgen von #besserRadfahren und dabei vor allem eines: Schuldzuweisungen. Wieso fällt es Verkehrsteilnehmer*innen so schwer, sich in die Rolle des jeweils anderen hineinzuversetzen – obwohl viele Menschen sowohl mit dem Auto als auch mit dem Rad unterwegs sind? Verkehrspsychologin Prof. Angela Francke hat Antworten.

Unsere Kommentarspalten unter den #besserRadfahren-Beiträgen auf Social Media sind voller Schuldzuweisungen zwischen Auto- und Radfahrer*innen, Beleidigungen und einem generellen Frust auf den jeweils anderen Verkehrsteilnehmer bzw. der Verkehrsteilnehmerin. Woher kommt das?

Die Kommentare waren nicht so richtig überraschend. Die Personen beziehen sich dort auf eigene Situationen. Man möchte als die Person dastehen, die alles richtig macht – die sich für das richtige Verkehrsmittel entschieden hat, die den richtigen Fahrstil hat und die sich an die Regeln hält. Entsprechend lässt man eine Kritik nicht gern auf sich sitzen.

In den Kommentaren habe ich gemerkt, dass es vor allem Autofahrende sind, die sich negativ äußern und die sich natürlich auch irgendwo angegriffen fühlen – vielleicht auch durch das provokante Video. Sie rechtfertigen ihr eigenes Verhalten. Dazu kommt, dass wir eine jahrzehntelange autozentrierte Planung des Straßenverkehrs haben. Autofahrende waren immer der alleinige Nutzende des Straßenraums. Da sind Aggressionen vorhanden, die aus der Haltung „Ich möchte, dass es bleibt, wie es ist“ kommen.

Bedrängt, geschnitten und beschimpft: Radfahrer:innen leben gefährlich! LKW und Autos überholen sie oft nur mit wenigen...Posted by SWR1 Baden-Württemberg on Monday, March 29, 2021

Aber an sich sind doch viele von uns in ihrem Leben sowohl Auto- als auch Radfahrer*innen. Wieso können wir uns trotzdem nur so schwer in den anderen hineinversetzen?

Personen identifizieren sich mit ihrem Verkehrsmittel. Sie sagen „Ich bin Autofahrer“ oder „Ich bin Radfahrerin“ und erweitern damit ihre Persönlichkeit durch ein Fahrzeug. Wenn wir nochmal in die Kommentarspalte schauen, sind die wirklich bösartigen und auch die beleidigenden Kommentare meist von Autofahrenden. Ich vermute, dass sind Personen, die ausschließlich das Auto benutzen und damit nur wenig Erfahrung damit haben, wie es heutzutage ist, mit dem Rad auf der Straße unterwegs zu sein.

Überzeugte Radfahrende und überzeugte Autofahrende befinden sich doch in unterschiedlichen Lebenswelten. Die Radfahrenden kämpfen für etwas und aus der Sicht der Autofahrenden sollte sich eigentlich nichts ändern. Damit haben wir ungleiche Voraussetzungen, um in eine Diskussion zu treten oder einen Perspektivwechsel zu üben.

Sie haben gerade unterschiedliche Lebenswelten angesprochen. Das gilt auch für die konkrete Situation auf der Straße: In einem Auto befinde ich mich in einem „abgeschirmten Raum“, während ich auf dem Fahrrad kein Blech um mich rum habe. Was bedeutet das für die Kommunikation?

Es gibt sehr ungleiche Voraussetzungen, auch sehr ungleiche Gemütszustände, mit der die Diskussion am Straßenrand gestartet wird. Die Situation ist folgende: Sie werden zu eng überholt als Radfahrender, haben vielleicht noch den Spiegel am Ellenbogen gespürt. Dann gehen Sie aus dem Sattel und versuchen den PKW-Fahrenden einzuholen und klopfen dem dann erregt an die Scheibe. Der Autofahrende sitzt in seinem voll klimatisierten Raum, entspannt, vielleicht mit der perfekten Musik. Der Radfahrende ist direkt den Elementen ausgesetzt und eben auch diesen kritischen Situationen, die der PKW-Fahrende vielleicht gar nicht bemerkt hat. Im Falle eines Falles sind die Unfallfolgen eindeutig. Die liegen beim Radfahrenden und damit fährt bei ihm eine Angst mit – zumindest unterschwellig.

Wir haben also eine ungleiche Situation, wie eine Kommunikation am Straßenrand dann eben startet. Und zwar meistens mit einer Rechtfertigung oder einem Angriff. Passend dazu ist auch der Vorwurf „Sie halten den Verkehr auf!“ Dabei ist man als Fahrradfahrender auch Verkehrsteilnehmender. Das ist noch nicht allen bewusst.

Warum fährt man auf einer solchen Strecke Fahrrad? Einige fordern es auch heraus und der Autofahrer soll Schuld sein 🤬....

Bedeutet das im Umkehrschluss, dass die Kommunikation zwischen Fußgänger*innen und Fahrradfahrer*innen besser ist?

Die Frage kann ich sofort mit ja beantworten. Das sind die beiden ungeschützten – die sogenannten schwächeren Verkehrsteilnehmenden. Beide sind unmittelbar den Elementen ausgesetzt, draußen und ohne Metallkapsel um sich herum. Damit ist die Kommunikation schon viel unmittelbarer möglich – auch was Blickkontakt und Handzeichen betrifft. Wenn ein Auto verspiegelte Fenster hat, das Licht steht vielleicht schlecht, dann sehen Sie die Person im Auto gar nicht.

Dabei behaupten die Autofahrer*innen in den Kommentaren, dass der Konflikt zwischen Radfahrern und Fußgängern genauso problematisch sei und Radfahrer*innen in der Hinsicht ebenso viel falsch machen.

Der Konflikt ist alleine aus Unfallperspektive ein anderer. Der Fußgänger erschreckt sich sicherlich auch, aber er bangt im Konflikt mit einem Radfahrenden für gewöhnlich nicht um sein Leben. Im Endeffekt ist das Kernproblem in diesen verschiedenen Konflikten der Platzmangel – der Kampf um eine Ressource. Es stellt sich die Frage: Behalte ich diese Ressource, so wie die letzten Jahrzehnte, oder gebe ich jetzt etwas ab? Um eine umweltfreundliche und attraktive Mobilität zu erreichen, muss ein Umdenken passieren. Natürlich muss es eine Umverteilung des Raumes geben.

Damit wären wir bei der Infrastruktur. Der fehlende Fahrradweg führt dazu, dass Auto- und Radfahrer*innen sich so nahekommen. Wieso regen sich Verkehrsteilnehmer*innen nicht einfach gemeinschaftlich darüber auf?

Wieso sollte denn ein Autofahrender dafür kämpfen, dass ein Fahrradfahrender mehr Platz bekommt? Wenn ich überzeugter Autofahrender bin, würde sich für mich was am Status Quo ändern und das möchte ich ja nicht. Dazu bräuchte es einen starken Perspektivwechsel und auch wirklich die Empathie für den anderen Verkehrsteilnehmenden. Die haben vielleicht noch nicht alle, aber ich denke mit mehr Kommunikation und natürlich auch Investitionen in die Infrastruktur ist das möglich.

Mir ist wichtig, dass hier ein gemeinsamer Ansatz gewählt wird und es kein Gegeneinander ist. Das lenkt an sich nur von dem Problem ab. Wir haben eine Gestaltung des Verkehrsraums, die nicht sicher ist für alle Verkehrsteilnehmenden und da muss eine Änderung her. Das kann heißen, dass PKW-Fahrende rücksichtsvoller, langsamer, überlegter und vorausschauender fahren – gleiches gilt aber auch für die Radfahrenden. Auch wenn die Infrastruktur verbessert ist, gibt es immer noch Kreuzungen und Knotenpunkte. Es ist immer wichtig, dass man aufeinander achtet.

Sie haben schon ein paar Lösungsansätze angeschnitten und von einem Kulturwandel geredet. Welche würden Sie konkret vorschlagen?

Es ist wichtig, dass gemeinsam eine integrierte Verkehrsplanung geschaffen wird. Das ermöglicht das Miteinander, das wir uns im Verkehr wünschen. Der Perspektivwechsel kann so geübt werden. Wie fühlt es sich an als Radfahrender, wenn ein PKW mich zu eng überholt oder wenn mich ein LKW nicht sieht? Also auch zu wissen, wo die toten Winkel beim LKW sind und wo ich mich als Radfahrender nicht aufhalten sollte. Das ist eine Frage der Ausbildung und da kann in der Verkehrspädagogik noch einiges getan werden. Aber natürlich auch in der Kommunikation von Regeln, wie beispielsweise der 1,50 Meter Abstandsregel.

Zudem können technische Lösungen, wie der LKW-Abbiegeassistent, sowie Verbesserungen der Infrastruktur, z.B. beim Kreuzungsdesign, helfen. Und es müssen Alternativen zum PKW geschaffen werden, die attraktiv sind und Spaß machen. Es wird dann selbstverständlich für bestimmte Strecken aufs Rad zu steigen. Jede einzelne Person, die aus dem PKW aussteigt – und wenn es nur einmal die Woche ist, verbessert auch für alle anderen PKW-Fahrenden die Gesamtsituation.

Also eher Aufklärung statt Sanktionen?

Natürlich müssen sich alle an Regeln halten. Trotzdem muss ich schauen: Wo liegen die Unfallschwerpunkte? Wenn ich Geisterradfahrende sehe, hat das häufig einen Grund: Nämlich, weil die Anbindung schlecht ist, weil man dort an der Ampel nicht abbiegen kann, weil es keinen abgesenkten Bordstein gibt. Die Ursache ist häufig die unzureichende Infrastruktur. Das ist ein riesiger Punkt, an dem viel verbessert werden kann – die Fördermittel sind da. Begleitend brauchen wir aber auf jeden Fall Aufklärung und Bildung – und das von den Kleinsten an.

Ich habe in den bisherigen Fragen sowohl von männlichen als auch von weiblichen Verkehrsteilnehmern gesprochen. Gibt es hier Unterschiede – Stichwort Testosteron und Revierverhalten?

Was wir wissen ist, dass Männer ein deutlich höheres Risiko haben, an einem Verkehrsunfall zu sterben und das vor allem in einem Alter zwischen 20 und 30 Jahren im Vergleich zu Frauen. Woran liegt das? Sie haben bereits den höheren Testosterongehalt angesprochen. Der kann eine Ursache sein. Wir sehen auch sogenanntes „Sensation Seeking“ – also die Lust am Kitzel und auch eine höhere Risikobereitschaft.

Dazu kommt vielleicht Imponiergehabe. In einer bestimmten Altersklasse ist das eben auch wichtig und da wären wir wieder bei der Verlängerung der Persönlichkeit. Da steht aber einfach noch ganz viel dahinter. Man kann das nicht mit einem einfachen "ja" oder "nein" beantworten. Keiner der cool sein möchte, macht das ohne ein bestimmtes Publikum. Da muss man ins Gespräch kommen.

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Sabrina Marschall