1. Intro
„SCHAUPLÄTZE“ möchte ich diese laudatio übertiteln.
SCHAUPLÄTZE hieß der erste Kurzfilm von Wim Wenders. Ich habe ihn nie gesehen, aber denke ich an seine Filme sehe ich zuerst die Schwebebahn in Wuppertal, die verschlungenen Bahngeleise am Frankfurter Bahnhof, die Weite Texas‘, John Fords Monument Valley, die Kupferstadt Butte in Montana, die Straßenschluchten Tokyos, die Öde der deutschen Grenzlandschaft, die Weinberge des Rheingaus – und natürlich die Berliner Mauer und die goldene Else hoch oben über der Stadt.
Ich weiß, das sind alles Spielfilme und heute geht es um einen Dokumentarfilmpreis.
Dokumentar und Fiktion sind aber im Falle von Wim Wenders untrennbar miteinander verbunden. Beiden gemeinsam ist die Aufmerksamkeit für das, was man direkt vor sich hat!
2. Das Dokumentarische an seinen Spielfilmen
Drehbuch – casting – Drehen und Schnitt, das sind, wie wir wissen, die wichtigen Etappen beim Filmemachen.
Eine andere, die Motivsuche, das Suchen nach den Schauplätzen, wird dabei oft vergessen. Schauplätze sind so wichtig wie Personen.
Geschichten können Vielen zustoßen, aber sie können nur an bestimmten Orten stattfinden.
Ich erinnere mich an meinen ersten Film, den immer aufregendsten:
Erst als ich im Burgenland, an der Grenze zwischen Österreich und Ungarn die endlose, nach Osten offene Landschaft gefunden hatte, die kleine Bahnstation, an der der 15 Jährige Törless sich von seiner Mutter verabschiedet und das riesige Gebäude von Schloss Eggenberg, in dem ich sein Internat ansiedeln wollte,
erst da konnte ich mir eine Verfilmung von Musils DIE VERWIRRUNGEN DES ZÖGLINGS TÖRLESS überhaupt vorstellen.
Die SCHAUPLÄTZE sind der dokumentarische Teil aller Filme, und bei Wim mehr als bei irgendeinem anderen Regisseur. Menschen und ihre Umgebung sind untrennbar miteinander verbunden. Das zu respektieren schuldet er der Schöpfung.
Da es Wim darum geht, das Leben möglichst unverfälscht wiederzugeben, vermeidet er das Inszenieren. Inszenieren kann, muss vielleicht sogar, verfälschen.
«Die Manipulation, die nötig ist, um all die Bilder eines Films in eine Geschichte zu pressen, mag ich nicht; für die Bilder ist sie sehr gefährlich, denn tendenziell absorbieren sie, was an Lebenin ihnen steckt.»
Da Wim deshalb nicht „inszenieren“ fährt er zB nach Wuppertal, um mit ALICE IN DEN STÄDTEN einen Dokumentarfilm in Form einer Fiktion zu drehen. Oder umgekehrt. Die Bilder sind dokumentarisch, das Kind, das später berühmte „Kind als es noch Kind war“, liefert die Erzählperspektive.
Sie ist weder objektiv, noch die des Autors Wim Wenders. Sie ist subjektiv: die Sicht des Kindes. Wim führt das Kind ein, um aus seiner Perspektive diese Stadt und die Menschen, die da leben, Hochbahn fahren und arbeiten und sich suchen, zu beobachten. Das Kind schaut auf die Stadt und Wim schaut auf das Kind, das schaut. Diese zweite Dimension macht aus der Dokumentation einen Spielfilm.
Apropos Dimension merke: wenn es in 3D ist, ist es ein Dokumentarfilm. Bei Großaufnahmen macht die dritte Dimension aus einem Porträt plötzlich eine Skulptur, um die man sich herumbewegen kann. Dokumentarischer also als jedes zweidimensionale Foto und doch irgendwie künstlicher.
Bewegungen im Raum, ob bei einer Choreographie oder in der Natur, verunsichern den Betrachter, der sich ja nicht mitbewegen kann, verleihen dem Objektiven des Dokumentes jedoch eine besondere Qualität. Wims 3D Filme sind insofern Pionierleistungen.
Ganz besonders beim Abbilden von Architektur wird sich das wohl noch bei dem work in progress über ZUMTHOR zeigen.
3. Das Fiktionale seinen Dokumentationen
Nun zum Dokumentarfilm: auch er braucht eine Erzählperspektive. Egal ob der Erzähler im Bild auftaucht, aus dem off spricht oder stumm und abwesend bleibt, jedes Beobachten setzt einen Beobachtenden voraus. Einen, der etwas wahrnimmt, ohne einzugreifen, ohne zu inszenieren. Aber es ist wie in der Quantenphysik: der Beobachter verändert das Phänomen, das er beobachtet.
Der oder die Protagonisten seiner Dokumentationen wissen doch, dass sie gefilmt werden. Und zwar nicht mit versteckter Kamera, sondern ganz klar und sichtbar wird das Team mit einbezogen. Alles andere wäre spionieren, was Wim nie tun würde.
Indem er sich selbst einführt, die Protagonisten also vor seinen Augen agieren, sind sie praktisch gezwungen, sich zu inszenieren.
- ANSELM Kiefer inszeniert sich selbst, wenn er seine riesigen Bilder treffsicher durch die Studiohalle rollen lässt,
- die Alten Männer inszenieren sich im BUENA VISTA SOCIAL CLUB,
- ihre Tänzer hat PINA inszeniert, lange bevor Wim sie filmen konnte,
- PAPST FRANZISKUS und der Vatikan sind von Haus aus eine einzige Inszenierung. Wims Blick entlarvt sie als solche: Die Haltung der Kardinäle, die stumm und ausdruckslos dem Papst zuhören, verändert sich durch den Blick, den Wim auf sie wirft.
Es gibt die berühmte Geschichte über eine Vorführung von NANUK DER ESKIMO in einem afrikanischen Dorf: der Missionar erklärt, dass der Eskimo in seinem Kanu beim Fischen nicht „spielt“, sondern alles ganz echt und unverfälscht ist. Der Dorfälteste fragt, ob der Eskimo wusste, dass eine Kamera im Boot war? Natürlich wusste er das. Dann ist es Theater, stellte der gewitzte Zuschauer fest.
In THE PERFECT DAYS beschreibt Wim mit der ihm eigenen Demut einen Mann, der mit ZEN-artigem Bewusstsein Toiletten putzt. Sicher sind die Route durch Tokyo und die Musiker der Kassetten, die der Fahrer spielt, von Wim ausgewählt. Insofern inszeniert, filmen tut er es aber, als ob es dokumentarisch sei. Es ist ein ungewohntes Tokio, das er uns zeigt, ein anderes als das in dem „reinen“ Dokumentarfilm TOKYO GA. Jedenfalls erscheint es uns anders, weil wir immer Hirayama dort arbeiten sehen, die Stadt also als sein Umfeld wahrnehmen.
Wo ist also bei Wim Wenders die Grenze zwischen Doku und Fiktion? Wenn jeder Dokumentarfilm durch den Beobachter immer auch subjektiv ist, so ist jeder Spielfilm auch ein Dokumentarfilm. Er dokumentiert die Schauplätze, wie gesagt, aber auch die Darsteller. HIGH NOON ist die Story eines aufrechten Sheriffs im Kampf gegen das Böse, das ist der inszenierte Teil, das was dargestellt wird. Es ist aber auch ein Dokument über den alternden, von Krankheit gezeichneten Menschen Gary Cooper. Jeder Spielfilm ist insofern auch ein Dokumentarfilm über seine Darsteller. Und zwar ganz besonders bei Wim, dem Regisseur, der nicht inszeniert, zum Beispiel DON’T COME KNOCKING, ein Dokument über Sam Shepard oder DER HIMMEL ÜBER BERLIN über Peter Falk. Und so weiter. Sie haben mich verstanden.
Wenn es einen Regisseur gibt, der den Dokumentarfilmpreis verdient, so ist es der Diesjährige!