Breitscheidplatz // Folge 1 // Der Anschlag
Birgit Tanner [00:00:00]
Triggerwarnung Bevor unser Podcast startet, eine kurze Warnung In diesem Podcast wird ein Anschlag beschrieben, sollten euch solche Themen triggern. Hört diesen Podcast am besten nicht alleine.
Nachrichtensprecher [00:00:16]
Die Weihnachtsmärkte eröffnen heute die Saison.
Nachrichtensprecher [00:00:21]
Berlin ist die Hauptstadt der Weihnachtsmärkte, in diesem Advent sind es insgesamt 59.
Moderator [00:00:26]
Rund um die katholische Kirche sind die nostalgischen kleinen Buden aufgereiht.
Uli Zelle [00:00:30]
Der Glühwein geht gut weg.
Redakteur WM Charlottenburg [00:00:32]
Besucher können sich von der historischen Kulisse verzaubern lassen.
Moderator [00:00:34]
Und auch das wirkt ganz beschaulich.
Uli Zelle [00:00:37]
Beschaulich ist genau der richtige Ausdruck für diesen kleinen, aber feinen Markt mit vielen Spezialitäten.
Simone Schillinger [00:00:46]
Hey, Birgit, ich bin jetzt am Hardenbergplatz. Wo bist du denn?
Birgit Tanner [00:00:52]
Hallo Simone, ich bin in zwei Minuten bei dir. Bis gleich.
Birgit Tanner [00:00:59]
Hallo Simone. Hello Hello. Na?
Simone
Hallo. Boah ist das kalt.
Birgit [00:01:02]
Wir sind auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt. Zum Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz an der Berliner Gedächtniskirche.
Simone Schillinger [00:01:12]
City Weihnachtsmarkt. Ich meine, das schon ganz schön mit der Gedächtniskirche.
Birgit Tanner [00:01:16]
OK, gehen wir mal rein, hier.
Simone Schillinger [00:01:19]
Auf den ersten Blick sieht’s hier aus wie auf jedem x beliebigen Weihnachtsmarkt. Überall Holzbuden und Lichterketten und trotz Corona ein ziemliches Gedränge,
Simone Schillinger [00:01:29]
Eine Riesenweihnachtspyramide. Erzgebirgische Volkskunst.
Birgit Tanner [00:01:29]
Die haben doch normale Leute immer so ein Fenster stehen, so ne Holzpyramide...
Simone Schillinger [00:01:39]
Scheint auf jeden Fall eine Attraktion zu sein, haben ein paar Leute gerade fotografiert.
Birgit Tanner [00:01:42]
Komm, lass uns mal durchgehen.
Simone Schillinger [00:01:43]
Aber es riecht schon krass. Ein bisschen nach Glühwein, ein bisschen nach den Asia-Nudeln, die es da rechts gibt.
Birgit Tanner [00:01:50]
Ich rieche aber noch keine gebrannten Mandeln. Wo sind Sie?
Simone Schillinger [00:01:53]
Und hier ist der große Weihnachtsbaum. Das ist ganz schön finde ich.
Birgit Tanner [00:01:57]
Hier ist auch die Ecke, wo es auch was Weihnachtliches gibt oder Geschenke oder so und nicht nur Essen und Trinken.
Simone Schillinger [00:02:02]
Käthe Wohlfahrt. Diese Stände gibt es auch auf jedem zweiten Weihnachtsmarkt.
Hier die obligatorischen Bienenwachs Kerzen. Altberliner Rumpunsch. Direkt am Salami-Stand. Interessante Kombination.
Birgit Tanner [00:02:15]
Warte mal, ich muss meinem Sohn noch was mitbringen.
Hallo, ich hätte gerne einmal frisch gebrannte Mandeln. Dankeschön, Tschüss.
Birgit Tanner [00:02:29]
Ich bin schon sehr lange in Berlin und ich bin tatsächlich heute das erste Mal wieder hier.
Simone Schillinger [00:02:35]
Seit wann?
Birgit Tanner [00:02:37]
Seit 5 Jahren.
Ingo Zamperoni [00:02:40]
In Berlin ist am Abend ein Lastwagen in einen Weihnachtsmarkt gerast.
Birgit Tanner [00:02:49]
Wie konnte das passieren?
Sprecher [00:02:51]
Er war von mehreren Sicherheitsbehörden als Gefährder eingestuft.
Simone Schillinger [00:02:54]
Es ist ein Anschlag, der 1000 Fragen aufwirft.
Norbert Siegmund [00:02:56]
Ein mutmaßlicher Terrorist, der wohl zuschlagen konnte, obwohl ihm Sicherheitsbehörden dicht auf den Fersen waren,
Birgit Tanner [00:03:03]
Aktenkundig und überwacht. Und trotzdem konnte der Islamist Anis Amri 13 Menschen töten.
Jo Goll [00:03:09]
Dann fragst du dich Was ist in dem Laden los?
Simone Schillinger [00:03:11]
Dieser Podcast erzählt die Geschichte von verheerenden Versäumnissen.
Sascha Adamek [00:03:15]
Ist es immer nur Schlamperei gewesen
Birgit Tanner [00:03:18]
Und einem eklatanten Behördenversagen?
Benjamin Strasser [00:03:21]
Anis Amri war alles, aber kein Einzeltäter.
Birgit Tanner [00:03:26]
Mein Name ist Birgit Tanner.
Simone Schillinger [00:03:28]
Und ich bin Simone Schillinger. Das hier ist der Podcast Breitscheidplatz.
Birgit Tanner [00:03:34]
Fünf Jahre ist es jetzt schon her, dass abends um acht ein LKW auf den Breitscheidplatz rast, mitten in einen Weihnachtsmarkt, wo Menschen ihren Glühwein trinken, gebrannte Mandeln essen, sich unterhalten, lachen, Spaß haben. Man kann sich das kaum vorstellen, wenn man selber da steht. Und genauso ging es mir auch, als wir für diesen Podcast auf dem Weihnachtsmarkt waren. Fünf Jahre nach dem Anschlag.
Simone Schillinger [00:03:58]
Es war am 19. Dezember 2016, als der Laster mehrere Holzbuden umgefahren und Teile davon mitgerissen hat. Ein absolutes Horrorszenario. 13 Menschen sind dabei ums Leben gekommen. Fast 100 weitere wurden verletzt.
Simone Schillinger [00:04:14]
Aber sag mal, wo ist das Ganze denn passiert?
Birgit Tanner [00:04:18]
Es ist auf der anderen Seite passiert, wenn man jetzt hier links runtergeht, kommt man zur Budapester. Und da ist es passiert.
Birgit Tanner [00:04:26]
Mit diesem Anschlag kommt der Terror endgültig auch in Deutschland an. Mitten im Herzen der Hauptstadt, direkt an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, die ist in der Nähe vom Zoo, vom Kudamm oder auch vom KaDeWe, das ist die Kirche, von der nur noch der kaputte Turm übrig ist. Die Berliner nennen ihn hohlen Zahn, weil er eben so aussieht wie ein hohler Zahn. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Kirche zerstört und nie wieder aufgebaut. Den Turm ließ man stehen, als Mahnmal gegen den Krieg und für den Frieden.
Simone Schillinger [00:04:58]
Und genau dieses Mahnmal wurde jetzt plötzlich von einer ganz neuen Art von Krieg heimgesucht. Inzwischen kennen fast alle den Namen des Attentäters Anis Amri.
Birgit Tanner [00:05:07]
Das ist direkt gegenüber vom Zoo Palast und hier ist eine Ampel. Und da ist er losgefahren.
Simone Schillinger [00:05:14]
Schau mal, das ist ja total verbarrikadiert. Die Straßen, Erhebungen mit riesigen Pollern. Ach guck mal, die heißen auch Anti-Terror-Sperren.
Birgit Tanner [00:05:21]
Sieht ein bisschen aus wie Stehtische, nur mit rot weißen Aufklebern drauf. Aber extrem schwer.
Sprecher [00:05:30]
Anis Ben Othman Amri, geborgen am 22. Dezember 1992 in Tatouine, Tunesien, gestorben am 23. Dezember 2016 in Sesto San Giovanni, Italien, war ein mehrfach verurteilter tunesischer Gewalttäter und islamistischer Attentäter. Beim Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche ermordete er am 19. Dezember 2016 den Fahrer des Sattelzugs, brachte das Fahrzeug in seine Gewalt und steuerte es in den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche. In Folge des Attentats starben insgesamt 13 Personen.
Simone Schillinger [00:06:07]
Anis Amri. Er kam 2015 als Geflüchteter nach Deutschland. Er war ein radikaler Islamist und hat anderthalb Jahre nach seiner Ankunft dann den schrecklichen Terroranschlag verübt. Wenn man so manche Politiker und Behördenchefs später hört, klingt fast so, als hätte man so was einfach nicht verhindern können.
Birgit Tanner [00:06:28]
Aber wissen wir wirklich alles? Wurde wirklich alles aufgedeckt, alles getan? Viele sagen nein. Viele sagen Der Staat hat versagt. Wir haben den Weg von mehreren Journalisten des Rundfunk Berlin-Brandenburg verfolgt, die auch zweifeln. Seit mittlerweile fünf Jahren sind sie auf der Suche nach den Antworten, die der Staat nicht geben kann.
Simone Schillinger [00:06:50]
Oder vielleicht auch nicht geben will? Es ist eine Recherche, die auch im Jahr 2021 noch nicht beendet ist. Die Journalisten arbeiten an einer Fernseh-Doku für die ARD, die Unfassbares ans Licht bringen wird.
Birgit Tanner [00:07:05]
Gespräche mit Zeugen, Zeuginnen und Hinterbliebenen, brisante Details aus Ermittlungsakten und investigative Recherchen fließen in diesen Podcast ein. Und es wird sich zeigen: Der Fall Breitscheidplatz war nicht nur ein Anschlag auf die Freiheit, sondern auch das Resultat eines Staates, der versagt hat. Ein Versagen, das auch heute noch jederzeit Menschenleben kosten könnte.
Birgit Tanner [00:07:35]
Komm mal mit. Wenn man sich dann mal hinstellt. Also hier wo ich jetzt stehe, ich stehe mitten auf der Straße, ist ja abgesperrt und da stand der LKW, hier ist er losgefahren und ich bin jetzt da, wo quasi das Führerhaus wäre. Und eigentlich müsste ich jetzt so ein bisschen nach links fahren, um der Straße zu folgen. Und der ist einfach voll geradeaus.
Simone Schillinger [00:07:59]
im Prinzip frontal in Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.
Birgit Tanner [00:08:02]
Genau!
O-Ton Collage Zeugen [00:08:05]
Ich habe gedacht, es ist ein Feuerwerkskörper. Beim zweiten, dritten Knall wurde mir klar, dass das nicht der….
Den Moment guck ich hoch und seh noch wie der LKW genau in diese Einflugschneise da vorne zwischen der Hütte reinkommt,
Es ging alles sehr schnell. Etwa zwei Sekunden..
…durch meine Stadt durchfährt mir gegenüber die Straße wieder raus.
Man realisiert das erst mal so gar nicht.
Es war etwa noch 3 4 Minuten mit meiner Mutter geredet. Und dann?
Wir haben einfach die Balken hoch gemacht, um Menschen da zu helfen. Und dann.. Die haben geschrien. Einfach Gas, Gas, Gas.
Dann wurde ich halt weggetragen von Helfern, weil dann auch die Schmerzen einsetzen…
wenn ich einfach so eine Gas Flasche reingekommen versuchte, einfach zuzumachen.
Dann habe ich das alles nur noch aus 3-4 Meter Entfernung mitbekommen. Wie die dann halt anfing mit den Reanimation-Maßnahmen.
Ich kann Schreie, ich kann die Schmerzen fühlen von diesem Menschen…
Und da habe ich schon mir das ausgemalt, dass das nicht gut ausgeht.
Ich war Soldat, ich bin. Ich komme aus Libanon. Ich habe so viel Krieg erlebt, aber ich habe noch nie so eine Schlacht gesehen. Ich kann einfach das nicht vergessen.
Simone Schillinger [00:09:21]
Birgit ist am Telefon und versucht Norbert Siegmund zu erreichen. Das ist einer von den Journalisten, von dem wir vorhin gesprochen haben. Einer von denen, die glauben, dass hinter dem Anschlag mehr steckt, als bisher bekannt ist. Und Norbert Siegmund hat eine ziemlich gewagte Reise vor.
Norbert Siegmund [00:09:39]
Guten Morgen!
Birgit Tanner [00:09:40]
Guten Morgen, Norbert. Es ist jetzt Samstag früh. Es ist der 13. November 7 Uhr 30. Wo geht's denn hin? Welche Reise tretet ihr jetzt an?
Norbert Siegmund [00:09:50]
Es geht ins wilde Kurdistan, wildes Kurdistan.
Simone Schillinger [00:09:55]
So wie Norbert das sagt, klingt das, als würde es auf eine Abenteuerreise in den Orient gehen. Es klingt fast schon romantisch, aber romantisch ist es an der Reise gar nichts. Der Nahe Osten im Jahr 2021, das sind Syrien, der Irak, Israel, Palästina alles Regionen, die man aktuell eher mit Konflikten, Terror und Gefahr in Verbindung bringt.
Birgit Tanner [00:10:17]
Jetzt reist ihr in ein Krisengebiet. Ja, inwieweit ist euch denn da so ein bisschen mulmig? Gibt es denn da noch Unsicherheiten? Was könnte denn da noch schiefgehen?
Norbert Siegmund [00:10:29]
Also mulmig ist uns nicht, weil Kurdistan ausdrücklich von der Reisewarnung ausgenommen ist. In der Hinsicht habt Vertrauen in die Behörden, ins Auswärtige Amt. Einfach aus der Erfahrung, dass im Zweifelsfall sehr vorsichtig, sehr konservativ sind. Das Gefährlichste war bisher nur die Fahrt zum Flughafen.
Simone Schillinger [00:10:50]
Schlechtes Wetter in Frankfurt, ein typisch deutscher Novembertag eben. Aber das ist eher noch der gemütliche Teil der Reise.
Birgit Tanner [00:10:57]
Und wen werdet ihr dort sprechen?
Norbert Siegmund [00:11:00]
Also wir sind jetzt auf der Spur eines Hintergrundes und sind ganz guter Dinge, dass wir noch ein paar Sachen herausbekommen werden, die Telefonrecherche war schon sehr vielversprechend.
Simone Schillinger [00:11:14]
Hintermann Da fragt man sich schon Wieso recherchieren Journalisten fünf Jahre nach dem Anschlag nach Hintermännern in Kurdistan?
Birgit Tanner [00:11:23]
Kannst du was über diesen Hintermann sagen, der euch da Informationen gibt oder mehrere Hintermänner?
Norbert Siegmund [00:11:30]
Also da möchte ich jetzt nicht zu sagen, bevor wir es wirklich im Kasten haben. Weil ich glaube, dass unsere Recherchen auch nicht jedermann genehm sind und auch nicht jeder Behörde genehm sind.
Jo Goll [00:11:41]
Na ja, wir sind jetzt natürlich sehr gespannt, was dabei rauskommt. Bei dieser Reise, weil wir an dieser Spur von der Norbert gerade gesprochen hat, tatsächlich seit Monaten jetzt recherchieren,
Simone Schillinger [00:11:52]
Das ist Jo, Jo Goll. Er ist der Kollege von Norbert. Die beiden fliegen gemeinsam nach Kurdistan.
Jo Goll [00:11:59]
Das ist eine Spur, so viel glaube ich, darf man sagen, die Bundesnachrichtendienst und Bundeskriminalamt kurz nach dem Anschlag schon hatten, aber dann eben fallen lassen haben. Und es geht wirklich darum: Wer sind die Hintermänner? Was ist da im Vorfeld dieses Anschlages passiert? Uns interessiert das brennend, auch mit Hinblick natürlich auf die Opfer, mit Hinblick auf die Öffentlichkeit, die Antworten auf viele bohrende Fragen haben will. Die Sicherheitsbehörden wollten offensichtlich relativ schnell keine Antwort mehr, weil sie sich festgelegt haben: Amri hatte kein Netzwerk, Amri hatte keine Hintermänner. Amri hat allein gehandelt. Das ist einfach die bequeme Version zur Erklärung dieses Anschlags. Wir erhoffen uns, davon wirklich Einblick zu bekommen. Wer stand hinter Anis Amri? Wie groß war dieses Netzwerk, wie international organisiert war dieses Netzwerk? Das sind alles wichtige Fragen und wir hoffen, da einen Baustein beitragen zu können. Um klar zu machen: Diese Einzeltäter These ist nicht mal die halbe Wahrheit. Im Grunde genommen ist es eine Lüge.
Simone Schillinger [00:13:16]
Ich finde es ehrlich gesagt erstaunlich, dass fast 5 Jahre nach dem Anschlag in Berlin zwei Journalisten einer Spur nachgehen, die Bundesbehörden schon hatten und offenbar nicht weiter verfolgt haben.
Birgit Tanner [00:13:26]
Man muss sich das Ganze mal vorstellen da passiert der schwerste islamistische Anschlag in der deutschen Geschichte. Man hat eine Spur und dann sagt man Machen wir nicht weiter. Wir kennen dafür jetzt nicht die Gründe. Das muss man mal fairerweise auch sagen. Aber mich bestürzt das schon. Man hat doch mal Aufklärung versprochen. Und es ist ja ziemlich eindeutig Es gibt eine Spur und es wirkt so, als seien die Ermittler der nicht richtig nachgegangen. Auf jeden Fall sind so viele Fragen offen, dass nun Journalisten selbst dorthin fliegen müssen für die Antworten.
Angela Merkel [00:13:59]
Und ich denke an die Ermittler. Ich habe großes Vertrauen zu den Männern und Frauen, die seit gestern Abend daran arbeiten, diese unselige Tat aufzuklären. Sie wird aufgeklärt werden in jedem Detail und sie wird bestraft werden. So hart es unsere Gesetze verlangen.
Simone Schillinger [00:14:25]
Die offizielle Version lautet Anis Amri hat den Anschlag begangen, und zwar allein. Den Journalisten reicht die Erklärung aber nicht. Sie haben von Anfang an Unstimmigkeiten gesehen und nicht locker gelassen. Sie haben so lange recherchiert und sind so tief in die Materie eingetaucht, bis sie an dem Punkt waren. Hey, da gibt es jemanden im Irak, der so wichtig ist, dass wir selber hinfliegen müssen.
Birgit Tanner [00:14:48]
Aber das war wirklich ein langer und steiniger Weg. Und ich glaube, es ist erst mal wichtig zu verstehen, was eigentlich die Polizei gemacht hat, wie ermittelt wurde und wie genau man auf Anis Amri kam. Im Jahr des Anschlags 2016, wenn ich mich an die Zeit zurück erinnere, an 2015 oder auch 2016, dann fällt mir tatsächlich auf, dass in diesen Jahren der Terror immer näher gerückt ist.
Jan Hofer [00:15:14]
Frankreich ist heute vom verheerenden Anschlag seit Jahrzehnten erschüttert worden.
Judith Rakers [00:15:19]
Bei der beispiellosen Anschlagsserie, die gestern Abend Paris erschütterte, wurden nach neuesten Angaben der Staatsanwaltschaft 129 Menschen getötet. 99 Menschen schweben noch in Lebensgefahr.
Jens Riewa [00:15:31]
Die belgische Hauptstadt Brüssel ist Ziel eines Terrorangriff.
Jan Hofer [00:15:35]
In Kopenhagen haben Unbekannte eine Veranstaltung über Kunst, Meinungsfreiheit und Gotteslästerung.
Jens Riewa [00:15:41]
Bei mehreren Anschlägen wurden heute Vormittag mehr als 30 Menschen getötet und etwa 230 Fälle.
Judith Rakers [00:15:45]
In Istanbul sind bei einem Selbstmordanschlag zehn Menschen getötet worden, mindestens acht der Opfer waren Deutsche…
Jens Riewa [00:15:50]
Frankreich trauert um die Opfer des verheerenden Anschlags von Nizza und mit dem Land Menschen weltweit. Mindestens 84 Männer, Frauen und Kinder wurden getötet. Nach bisherigen Erkenntnissen war der 31 jährige Täter am französischen Nationalfeiertag in Nizza mit einem Lastwagen über Kilometer hinweg in feiernde Menschen gerast, bevor ihn die Polizei erschossen.
Simone Schillinger [00:16:14]
Nizza. Daran kann ich mich noch gut erinnern. Ich war damals ein paar Monate vor dem Anschlag selber in Nizza, genau an der Stelle, an der dann im Sommer 2016 der LKW in die Menschenmenge gerast ist.
Birgit Tanner [00:16:28]
Ganz ähnlich wie beim Anschlag am Breitscheidplatz.
Simone Schillinger [00:16:30]
Genau 86 Tote und mehr als 400 Verletzte gab es in Nizza. Damals haben Polizisten den Attentäter noch vor Ort in der Fahrerkabine des LKW erschossen.
Birgit Tanner [00:16:41]
Und er war ein islamistischer Attentäter, ein gebürtiger Tunesier, der schon elf Jahre in Nizza gelebt hat. Zwei Tage nach dem Anschlag bekennt sich dann der sogenannte Islamische Staat zu dem Terrorakt.
Simone Schillinger [00:16:55]
Was die Terrormiliz dann ja auch in Bezug auf den Anschlag in Berlin getan hat.
Speaker 1 [00:17:00]
Nizza ist damals eine Hochburg von Dschihadisten, also sogenannten Gotteskriegern. Diese Gotteskrieger wollen in einem selbsterklärten Krieg alle anderen Religionen vernichten mit Gewalt und Mord. Alle, die nicht so radikal denken wie sie, bezeichnen sie als Ungläubige. Oft lassen sich diese Dschihadisten in den Gebieten des Islamischen Staates ausbilden, aber nicht alle. In Nizza gibt es viele homegrown Terroristen. So nennt man diejenigen, die sich an ihrem Wohnort radikalisieren und am Ende dort auch Anschläge begehen. Und von diesen homegrown Terroristen gibt es auch in Deutschland einige.
Simone Schillinger [00:17:38]
Vor allem in Berlin gibt es viele von diesen potenziellen Attentätern oder Gefährdern.
Birgit Tanner [00:17:43]
Und das war auch nicht völlig unbekannt. Einige Wochen vor dem Anschlag auf den Breitscheidplatz machen die Journalisten Jo Goll und Norbert Siegmund einen Beitrag genau zu diesem Thema. Und wenn ich mir den heute anschaue, läuft es mir kalt den Rücken runter. Das ist jetzt in dem Originalbeitrag aus 2016
Jo Goll [00:18:04]
Festnahme des mutmaßlichen Terroristen Ashraf Al vor vier Wochen in Schöneberg. Laut Geheimdienstquellen hatte er vom IS die Freigabe für einen Anschlag in Berlin erhalten.
Birgit Tanner [00:18:14]
Und das sagt Jo heute.
Jo Goll [00:18:16]
Wir haben sechs Wochen vor dem Anschlag, ohne im Nachhinein recht haben zu wollen, einen Beitrag gemacht, wo er mal aufgelistet haben Wie ist das LKA Berlin personell ausgestattet?
Norbert Siegmund [00:18:29]
Zwischen 100 und 150 Islamisten hat Berlins Polizei als sogenannte Gefährder eingestuft, als mögliche Terroristen oder Helfer. Zurzeit acht sogenannte mobile Einsatzgruppen der Polizei sind auf Observation solcher Gefährder spezialisiert und darauf sofort einzugreifen. Gegen Messer-Anschläge wie in Würzburg oder denkbare Fahrzeug Attentate wie in Nizza müssen mögliche Terroristen sehr eng begleitet werden. Hier braucht die Polizei für eine rund um die Uhr Observation drei Einsatzgruppen pro Verdächtigen.
Jo Goll [00:19:02]
Und dann haben wir herausgefunden Es gibt acht Teams. Und wenn die rund um die Uhr arbeiten, dann können sie am Ende zweieinhalb Gefährder wirklich in Manndeckung nehmen. Dann wissen sie von zweieinhalb rund um die Uhr: Was machen die gerade? Und mit dieser Erkenntnis sind wir praktisch an die Spitze des Hauses gegangen und haben im Grunde genommen nur Gesundbeterei und anhören müssen.
Simone Schillinger [00:19:27]
Der Beitrag lief nach dem Anschlag in Nizza und vor dem Anschlag in Berlin. Also man wusste ganz konkret Die Leute sind wirklich gefährlich und wir haben davon einige in der Hauptstadt. Und von 150 dieser potenziell gefährlichen Leute konnte man nicht mal drei richtig überwachen. Das ist schon hart.
Winfried Wenzel [00:19:45]
Wir sind aktuell dabei, die Auswahl zu treffen.
Birgit Tanner [00:19:48]
Das ist der damalige Polizeisprecher Berlins, der sich auf die Fragen der Journalisten rechtfertigt.
Winfried Wenzel [00:19:53]
Für den ersten Schwung von neuen Mitarbeitern, für den Bereich Observation, also mobile Einsatzgruppen. Das ist eine Größenordnung von etwa 30 Personen, die jetzt in diesen Tagen ausgewählt, ausgebildet wird und dann natürlich auch einsatzfähig sein wird.
Jo Goll [00:20:07]
Also das heißt, Sie fühlen sich personell gut ausgestattet?
Winfried Wenzel [00:20:12]
Eindeutig ja.
Birgit Tanner [00:20:13]
Und das sagt Jo heute dazu.
Jo Goll [00:20:15]
Wir wissen um den Personalmangel. Ja. Wir werden des Islamismus Dezernat aufstocken. Ja. Es kommen neue Leute. Alles gut. Das war die Aussage. Und zu dieser Zeit, jetzt muss man dazu sagen, waren die wirklich dauerbelastet. Das ist fast keine Woche vergangen, dass irgendein Islamismus Fall auch mit Berlin Bezüge hatte. Da sind Leute nach Berlin geschickt worden, die Anschläge begehen sollten,
Birgit Tanner [00:20:42]
Egal was die Polizei sagt. Jo kommt am Ende seines Beitrags zu einer sehr klaren Einschätzung der Sicherheitslage in Berlin vor dem Anschlag.
Jo Goll [00:20:52]
Denn selbst wenn die Spezialkräfte nahezu verdoppelt würden mit dem militärischen Niedergang des IS in Nahost, fürchten Experten mehr Rückkehrer und selbst ernannte Märtyrer auch in Berlin. Und schon jetzt sagen Ermittler: Bisher hat Berlin vor allem Glück gehabt.
Birgit Tanner [00:21:10]
Bis Berlin dann kein Glück mehr hatte.
Jo Goll [00:21:13]
Es gab immer was in diesem in diesem Jahr 16. Und dann machst du so einen Beitrag, denkst du Oha. Na dann haben sie es ja offensichtlich im Griff und sechs Wochen später passiert dann so eine Nummer.
Jo Goll [00:21:44]
Ich weiß es noch gar nicht genau, ich saß in einer Kabine am Fußball gespielt davor und dann kam der Anruf aus der Redaktion: Wo bist du? Ich habe gesagt, ich habe gerade geduscht, habe grad Fußball gespielt, was los? Und dann war… es hat sich auch in der Kabine total schnell rumgesprochen. Das ist eine Abendschau Mannschaft, also tatsächlich eine rbb Mannschaft in der Medien Liga und die Köpfe waren echt bedröppelt. Alle Gesichter gucken sich an, dachten, Ach du Scheiße, was ist jetzt los? Und seit diesem Tag, seit diesem Abend sind wir halt an dieser Geschichte ganz dicht dran und es hat uns jetzt die letzten fünf Jahre nicht mehr wirklich losgelassen.
Uli Zelle [00:22:28]
Die Budapester Straße zwischen Bikini-Haus und Gedächtniskirche ist voller Polizei, voller Feuerwehr. Der LKW steht jetzt ein bisschen in die Budapester Straße wieder hinein. Er ist durch die Budengasse gefahren.
Uli Zelle [00:22:46]
Offensichtlich wohl auch bewusst.
Simone Schillinger [00:22:49]
Direkt nach dem Anschlag nimmt keine der offiziellen Stellen das Wort Terror in den Mund. Weder die Polizei noch die Politik
Uli Zelle [00:22:57]
…ist hier jetzt etwas eingetroffen nach ihrem Erkenntnisstand. Was in Frankreich auch passiert ist?
Michael Müller [00:23:06]
Das können wir noch nicht sicher sagen, ob es so ist. Aber es ist natürlich eine bedrückende, eine dramatische Situation, die vermuten lässt, dass es ein Anschlag ist. Aber man kann es noch nicht 100%ig sagen.
Simone Schillinger [00:23:16]
Das ist Michael Müller, der Regierende Bürgermeister von Berlin. Und noch mehr Politiker äußern sich.
Tagesschau-Reporter [00:23:22]
Hier fahren immer noch Rettungswagen vorbei, das heißt, es werden immer noch Schwerverletzte und Verletzte versorgt und bei mir ist jetzt auch der neue Innensenator Berlins Andreas Geisel und den kann ich fragen: was sind ihre Erkenntnisse: war es ein Anschlag?
Andreas Geisel [00:23:35]
Das kann man gegenwärtig noch nicht sagen. Wir hatten kurz nach 20 Uhr einen schrecklichen Vorfall. Ein LKW ist in den Weihnachtsmarkt an der Breitscheidstraße, in den Breitscheidplatz gefahren. Es gibt mehrere Tote und mehrere Verletzte. Zur Motivation dieses Vorfalls ist gegenwärtig noch nichts zu sagen. Spekulationen verbieten sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt.
Birgit Tanner [00:23:57]
Tatsächlich geht die Polizei erst mal von einer sogenannten Amok Lage aus. Heißt Zitat: „Wenn ein Täter wahllos oder gezielt mit Waffen, Sprengmittel und gefährlichen Werkzeugen oder außergewöhnlicher Gewaltanwendung Personen verletzt oder getötet hat und noch weitere Taten zu erwarten sind“.
Simone Schillinger 00:24:16]
Aber innerhalb der Polizei gibt es ja viele Abteilungen. Beim Staatsschutz, im Berliner LKA geht man schon kurz nach dem Anschlag von einem Terrorakt aus und nicht etwa von einem Unfall oder von einer Amokfahrt. Das erkennt man daran, dass schon kurz nachdem der LKW auf den Breitscheidplatz gerast ist, das Dezernat 54 alarmiert wurde. Und das ist zuständig für Zitat: „politisch motivierte Ausländerkriminalität in Klammern: Islamismus“
Birgit Tanner [00:24:45]
Die Beamten dort lösen schließlich in der Nacht, genauer gesagt drei Stunden nach dem Anschlag, die Maßnahme 300 aus.
Simone Schillinger [00:24:53]
Maßnahme 300 Das hört sich an wie ein Fitzek Roman, bedeutet aber bekannte islamistische Gefährder werden persönlich aufgesucht. Ganze 40 Personen hatte man in Berlin auf dem Zettel.
Birgit Tanner [00:25:06]
Etliche Ermittler klingeln nun mitten in der Nacht an Türen islamistischer Gefährder, suchen einschlägig bekannte Moscheen auf. Ein Name steht allerdings nicht auf der Liste der gesuchten: Anis Amri.
Birgit Tanner [00:25:06]
Kurz nach dem Anschlag ist die Situation in Berlin so: offiziell spricht man nicht von Terror. Die Ermittler selbst leiten allerdings die Maßnahmen in die Wege, die für einen Terroranschlag vorgesehen sind. Man sucht viele islamistische Gefährder auf. Anis Amri ist aber keiner von ihnen.
Simone Schillinger [00:25:42]
Es könnte einem fast der Gedanke kommen, dass sie Amri überhaupt nicht auf dem Schirm hatten, den vielleicht gar nicht gekannt haben.
Birgit Tanner [00:25:48]
Könnte man denken. Allerdings hat man in einem anderen Bundesland sofort einen sehr, sehr konkreten Verdacht. In Nordrhein-Westfalen steht Amri nämlich bei den zuständigen Behörden ganz oben auf der Liste.
Sascha Adamek [00:26:02]
Alle waren gleichzeitig der Meinung, das kann sich nur um den Amri handeln, während man in Berlin noch überlegt hat, ob es überhaupt ein Anschlag ist.
Birgit Tanner [00:26:09]
Das ist Sascha Adamek. Auch er ist Journalist beim Rrbb und ein Kollege von Jo Goll, das ist der Journalist, der am Fußballplatz vom Anschlag erfahren hat. Und bei seiner Recherche hat Sascha eben gerade das herausgefunden. Berlin tappte im Dunkeln, während man in NRW alle Scheinwerfer sofort auf Amri gerichtet hatte. Und da frage ich mich schon: Wie kann es eigentlich sein, dass man 2016 nach dem Anschlag in Berlin im Nebel stochert und in NRW sofort ein Name aufploppt?
Simone Schillinger [00:26:40]
Willkommen im Föderalismus. Polizei ist ja in Deutschland Ländersache. Konkret heißt das: Wenn in NRW die Ermittler einen Gefährder auf dem Schirm haben und der nach Berlin zieht, dann kann die Polizei in NRW nicht mehr aktiv werden.
Birgit Tanner [00:26:54]
Nur hoffen, dass sich die Kollegen in Berlin kümmern.
Simone Schillinger [00:26:57]
Genau. Und das LKA in NRW hatte Anis Amri schon lange im Visier. Genau das haben sie den Berliner Behörden auch mitgeteilt, als Amri dann nach Berlin gezogen ist. Kurz nach dem Anschlag hat der damalige Innenminister von NRW, Ralf Jäger, für Schlagzeilen gesorgt, weil er das offiziell bekannt gegeben hat. Achtung, jetzt kommt solides Behördendeutsch, aber der Beitrag ist wichtig. Wir fassen das direkt danach noch mal verständlich für euch zusammen.
Ralf Jäger [00:27:24]
Er war von mehreren Sicherheitsbehörden, unter anderem Nordrhein-Westfalen, als Gefährder eingestuft. Er hat sich seit Februar 2016, hatte seinen Lebensmittelpunkt in Berlin gesucht. Nach heutigem Kenntnisstand war er zuletzt kurz in Nordrhein-Westfalen. Die Sicherheitsbehörden haben ihre Erkenntnisse und ihre Informationen zu dieser Person im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum ausgetauscht, zuletzt im November 2016. Das LKA Nordrhein-Westfalen initiierte beim Generalbundesanwalt schließlich ein Verfahren wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat nach 89a. Der Berliner Generalstaatsanwalt führte die weiteren Ermittlungen.
Simone Schillinger [00:28:04]
Unterm Strich, erklärt der Innenminister: in NRW wurde Amri beobachtet. Als er dann nach Berlin zieht, wird seine Akte an Berlin übergeben. Um es mal bildlich zu sagen. Eigentlich wussten die Berliner die ganze Zeit Bescheid, dass bei ihnen ein weiterer Gefährder unterwegs ist. Aber wir erinnern uns an den Bericht von Jo von gerade eben.
Jo Goll [00:28:26]
Und dann haben wir rausgefunden Es gibt acht Teams. Und wenn die rund um die Uhr arbeiten, dann können sie am Ende zweieinhalb Gefährder wirklich in Manndeckung nehmen.
Simone Schillinger [00:28:38]
Zweieinhalb von 150 Gefährdern können Berlin wirklich überwacht werden. Und Amri? Na ja, der war offensichtlich keiner von den zweieinhalb. Auch wenn es zynisch klingt.
Simone Schillinger [00:28:50]
Wie oft habt ihr die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen im Laufe der letzten fünf Jahre?
Jo Goll [00:28:55]
Tut mir gerade wieder …
Sascha Adamek [00:28:57]
..unendlich. Es nimmt ja kein Ende, dass man sich immer die Haare rauft und fragt: Wie kann das sein?
Birgit Tanner [00:29:02]
Auf der Liste der Maßnahme 300 landet Anis Amri direkt nach dem Anschlag somit also auch nicht. Heißt weder vor dem Anschlag noch direkt danach scheinen die Berliner Behörden die Gefahr von Amri richtig einzuschätzen. Und das, obwohl insgesamt 40 Behörden. Ja, richtig gehört: 40 Behörden in irgendeiner Form mit ihm zu tun hatten. Amri war vorbestraft, wurde teilweise überwacht. Er wurde als Gefährder geführt. Unzählige Leute kamen mit dem Mann in Berührung und zwar vor dem Anschlag. Am Ende wird das 13 Menschen das Leben kosten.
Simone Schillinger [00:29:37]
Die Spurensicherung findet im Tat-LKW schließlich Papiere, die auf den Namen des Attentäters hinweisen. Anis Amri. Doch gegenüber der Öffentlichkeit tun die Behörden erstmal so, als könnten sie mit dem Namen nichts anfangen. So klingt das damals in der Abendschau des rbb.
Nachrichtensprecherin [00:29:54]
Innensenator Geisel möchte sich nicht vor unserer Kamera äußern wegen des laufenden Ermittlungsverfahrens, heißt es. Ebenso der Polizeipräsident. Ebenso vor einer Stunde der Regierende Bürgermeister. Er wolle sich erst informieren, so Michael Müller gegenüber der Abendschau.
Norbert Siegmund [00:30:14]
Dann hatten wir die Situation, dass eine .. ich sag mal.. eine Quelle einer Sicherheitsbehörde sich total geärgert hat, dass es zu diesem Anschlag gekommen ist.
Simone Schillinger [00:30:24]
Aber erzähl das mal konkreter. Du wurdest angerufen und zu einem Parkplatz gebeten, oder…?
Norbert Siegmund [00:30:30]
Nein, nein. In so einer Situation rufst du natürlich andere Leute an, von denen du weißt, dass sie dir helfen können. Das ist jetzt investigative Routine und wer seinen Job ernst meint, in dieser Stadt, weiß natürlich auch, mit wem man telefonieren muss und was er unternehmen muss. Und daraufhin gab es eine Verabredung und dann dieses Gespräch. Und dann bin ich halt mit einem Bild da rausgegangen.
Birgit Tanner [00:31:03]
Norbert trifft sich mit einer anonymen Quelle auf einem Parkplatz. Der Informant zeigt ihm einige Bilder. Das sind Standbilder aus einer Überwachungskamera. Und der Informant steckt Norbert, dass der Mann auf dem Foto Anis Amri ist. Genauer gesagt: Man sieht, wie Anis Amri aus einem Haus herauskommt. Und dieses Haus ist nicht irgendein beliebiges Haus, sondern das ist eine Moschee. Und die ist für zwei Dinge bekannt. Dort werden junge Leute für den sogenannten Heiligen Krieg rekrutiert und es wird ihnen geholfen, zum IS nach Syrien und in den Irak zu kommen.
Norbert Siegmund [00:31:39]
Die Quelle wusste, dass die Person in der Fussilet Moschee verkehrte.
Die Quelle wusste, dass die Fussilet Moschee eigentlich schon seit einem Jahr verboten gehörte.
Simone Schillinger [00:31:52]
Und warum passierte das nicht?
Norbert Siegmund [00:31:54]
Hintergrund: Ein Beamter war dauerkrank und dann hat man einfach die Arbeit liegen lassen und die Quelle hat sich darüber sehr geärgert.
Jo Goll [00:32:04]
Der Verbotsantrag für diese Moschee ist verstaubt in der Schublade beim Innensenator, weil der zuständige Beamte dauernkrank war. Und anstatt diese Schublade mal aufzumachen und diesen Antrag auf Verbot dieser wirklich radikalen Moschee, den man anzugucken und voranzutreiben, ist das monatelang dort beim Innensenator in der Schublade letztendlich versandet. Und das war das nächste Ding, wo wir dachten: Das kann doch wohl nicht wahr sein, dass eine Moschee, von der man weiß, dass zig islamistische Gefährder ein und ausgehen, inklusive Anis Amri, dass die nicht verboten wird, dass das nicht vorangetrieben wird, weil ein Beamter dauerkrank ist, ist natürlich skandalös
Simone Schillinger [00:32:51]
Auf dem Parkplatz hält die Quelle Norbert direkt mehrere solcher Fotos hin. Eins davon darf Norbert mitnehmen zur Veröffentlichung und das ist ein absoluter Kracher. Es ist nämlich der Beweis dafür, dass offensichtlich auch die Berliner Behörden Anis Amri auf den Fersen waren. Sonst hätte man schließlich keine Überwachungsfotos von ihm.
Norbert Siegmund [00:33:10]
Es ist eine riesengroße Sauerei passiert, weil die Behörden einfach diesen Job nicht gemacht haben. Und wir haben jetzt den Beleg dafür, dass sie nicht gemacht haben. Das heißt das Foto war jetzt nicht nur im Boulevard Ding, dass das Grauen ein Gesicht bekam, sondern das Foto war auch Beleg dafür, dass man ihn kannte. Dass man die Moschee letztendlich, in der verkehrte, dass diese Moschee eine Rolle spielte bei dem Anschlag und die Information, die mir neu war, dass seit einem Jahr die Moschee hätte eigentlich verboten werden sollen. Dass die Arbeit halt liegengeblieben war.
Birgit tanner [00:33:55]
Und schon kurz darauf teilt Norbert diese unglaubliche Erkenntnis mit ganz Fernseh- Deutschland.
Norbert Siegmund [00:34:01]
Ein mutmaßlicher Terrorist, der wohl zuschlagen konnte, obwohl ihm Sicherheitsbehörden dicht auf den Fersen waren. So dicht, dass es einem den Atem verschlägt. Nach den vorliegenden Observation Bildern wurde Amri nur wenige Tage vor dem Terrorakt in Berlin von Sicherheitskräften gefilmt, und zwar am 14. 12. um 3 Uhr 25 sowie am 15. 12 um 3 Uhr 35, also gerade mal 4 Tage vor dem Anschlag.
Simone Schillinger [00:34:28]
Das ist echt krass. Und Norberts Kollege Jo ergänzt damals im Fernsehen schon fast provokant.
Jo Goll [00:34:35]
Innensenator Geisel will sich auch heute öffentlich nicht äußern. Genau das wird er aber morgen müssen vor dem Innenausschuss des Abgeordnetenhauses.
Birgit Tanner [00:34:44]
Und die Berliner Behörden werden sich tatsächlich sehr bald dazu äußern. Und wie sie sich äußern werden. Aber jetzt atmen die Journalisten erst mal durch. Stellt euch das einfach mal vor: Ihr habt den vermeintlichen Beweis dafür, dass die Polizei und die Ermittler versagt haben. Ein Versagen, das Menschen mit ihrem Leben bezahlen mussten. Ihr denkt: Hey, damit können wir jetzt wirklich was bewegen. Vielleicht sogar ein Stück weit dafür sorgen, dass so was nicht einfach wieder passieren kann.
Norbert Siegmund [00:35:13]
Wir haben dann eigentlich einen Boris Becker Faust gemacht und sind abends dann gegen Mitternacht noch zum Mexikaner gegangen und haben Mai Thai getrunken. Weil wir echt platt waren nach diesem turbulenten Tag.
Simone Schillinger [00:35:25]
Aber dann gibt die Berliner Polizei eine Pressekonferenz und zieht Norbert, Jo und ihren Kollegen den Boden unter den Füßen weg.
Christian Steiof [00:35:35]
Definitiv ist nach Aussagen der Kollegen der operativen bei mir die Personen-Kenntnis hatten, in der Vergangenheit Herrn Amri entweder gesprochen oder observiert haben. Die Person auf diesen veröffentlichten Bildern nicht Anis Amri.
Birgit Tanner [00:35:52]
Das Bild, das beweisen soll, dass die Behörden den Attentäter sehr gut gekannt haben, zeigt nicht Anis Amri.
Birgit Tanner [00:36:05]
Wie die Geschichte der Recherche weitergeht und was die Journalisten schließlich fünf Jahre nach dem Anschlag bis in den Irak führt, das könnt ihr hier auf diesem Kanal hören. Doch wir müssen euch vorher noch ein wenig um Geduld bitten. Wir erhalten immer wieder neue und aktuelle Informationen, zum Teil auch vorher noch nie veröffentlichte Informationen.
Simone Schillinger [00:36:26]
Und die wollen wir sorgsam ordnen, um sie in dieser Geschichte zu erzählen. Darum abonniert diesen Podcast am besten jetzt sofort. Und wenn es dann in einigen Wochen weitergeht, verpasst ihr kein Detail der unfassbaren Recherche der Journalisten.
Birgit Tanner [00:36:42]
Euch erwartet unter anderem das:
Norbert Siegmund [00:36:45]
Die mich natürlich angeguckt, wie man ein ekliges Insekt unterm Mikroskop betrachtet.
Jo Goll [00:36:51]
Wir saßen da hinten drin und dachten: Das kann nicht wahr sein. Sie lügen. Sie lügen ganz bewusst.
Norbert Siegmund [00:36:58]
Die haben im Grunde versucht, ein Steinchen nach uns zu werfen, was dann eine Lawine ausgelöst hat.
Simone Schillinger [00:37:09]
Diese Pilotfolge wurde kurz vor dem fünften Jahrestag des Anschlags auf den Breitscheidplatz veröffentlicht. 13 Menschen aus sechs Nationen verloren infolge dieses Anschlags ihr Leben.
Birgit Tanner [00:37:21]
An sie wollen wir am Ende einer jeden Folge dieses Podcasts erinnern. Denn ihre Namen dürfen nie vergessen werden.
Simone Schillinger [00:37:30]
Anna und Georgiy Bagratuni
Birgit Tanner [00:37:32]
Klaus Jacob.
Simone Schillinger [00:37:35]
Nada Cizmar
Birgit Tanner [00:37:37]
Fabrizia di Lorenzo.
Simone Schillinger [00:37:39]
Sebastian Berlin.
Birgit Tanner [00:37:42]
Dalia Elyakim
Simone Schillinger [00:37:44]
Christoph Herrlich!
Birgit Tanner [00:37:47]
Dorit Krebs.
Simone Schillinger [00:37:48]
Peter Völker.
Birgit Tanner [00:37:50]
Angelika Klösters.
Simone Schillinger [00:37:53]
Lukasz Urban.
Birgit Tanner [00:37:55]
Und Sascha Hüsges
Sprecher [00:38:02]
Breitscheidplatz ist eine Produktion von 190P. Im Auftrag vom SWR in Zusammenarbeit mit dem rbb. Executive Producer: Sahar Eslah und Oliver Meske. Skript, Dramaturgie und Redaktion: Simone Schillinger, Birgit Tanner und Jakob Baumer. Redaktionelle Mitarbeit: Franziska Schill. Schnitt und Sounddesign: Jonas Knopf und Jonas Hipper. Musik: Felix Schneider. Großen Dank auch an Thomas Simon vom SWR und an die Journalisten des rbb, hier insbesondere an Peter Till Kolano für die Bereitstellung des Archivs sowie Anne Kathrin Thüringer, Ute Beutler und Anette Nolting für die redaktionelle Unterstützung.