Was hat das Verfahren gegen Verena Becker mit dem Doppelmord-Prozess gegen Vera Brühne (1910 – 2001) zu tun? Auf den ersten Blick gar nichts. Der Brühne-Prozess um den Mord an Dr. Praun und seiner Haushälterin 1960 war wohl einer der spannendsten und spektakulärsten Strafverfahren der 1960er Jahre. Doch mit Terrorismus hatte er rein gar nichts zu tun. Doch auf den zweiten Blick gibt es eine hoch interessante Gemeinsamkeit: In beiden Verfahren taucht die gleiche Person als Zeuge auf – und nimmt in beiden Verfahren für sich in Anspruch, entscheidende Informationen beitragen zu können. Obwohl der Zeuge dadurch mutmaßlich gegen die ethischen Regeln seines Berufsstandes (Journalist) verstößt. Ein Zufall?
Die Rede ist von Nils von der Heyde, der nicht nur kräftig an seinem eigenen Wikipedia-Artikel schreibt, sondern am Donnerstag dieser Woche vor dem OLG Stuttgart aussagen soll. Vermutlich wird er dort erzählen, was ihm der frühere (inzwischen verstorbene) Präsident des Hamburger Landesamtes für Verfassungsschutz, Christian Lochte (1935 – 1991), 1977 erzählt haben soll. Lochte war damals Abteilungsleiter des Hamburger Verfassungsschutzes und habe von der Heyde gesagt, „die Sola“ habe Siegfried Buback erschossen. „Sola“ sei Verena Becker, habe Lochte damals erläutert. Und er sei darüber erschüttert, weil er dachte, das Bundesamt für Verfassungsschutz habe Verena Becker unter Kontrolle. Das alles will von der Heyde als damaliger Chefreporter der BILD-Zeitung erfahren und bis jetzt für sich behalten haben. Beim Hamburger Verfassungsschutz hört man hingegen, die Geschichte sei „Schifferscheiße“ (wie man es mit hanseatische Zurückhaltung ausdrückt).
Auch für mich hat diese Aussage mehrere kleine Schönheitsfehler, aber diese seien zunächst einmal zurückgestellt. Es ist ohne Zweifel eine spektakuläre Aussage, mit der Nils von der Heyde (73) nach dem Ende seiner publizistischen Karriere nochmals kräftig Schlagzeilen macht. Ein wirklich sehr großer Zufall scheint mir allerdings zu sein, dass seine Karriere 1961 mit einer ebenso erstaunlichen Geschichte begann:
Am Dienstag nach Ostern im Jahr 1960 wurden in Pöcking am Starnberger See die Leichen des Arztes Dr. Otto Praun und seiner Haushälterin Elfriede Kloo gefunden. Zunächst ging man davon aus, Praun habe Kloo und dann sich selbst getötet. Doch nachdem bekannt wurde, dass nach dem Testament von Praun dessen Gelegenheits-Geliebte Vera Brühne eine lukrative Immobilie erben sollte, geriet die damals 50jährige Brühne und deren Freund Johann Ferbach in Verdacht. Die Beweislage war schwierig. Zwar gab es gravierende Indizien gegen Brühne und Ferbach, diese tauchten aber erst einige Zeit nach dem Mord auf und wurden ausgerechnet vom Sohn Dr. Prauns (der Brühne als Täterin bezichtigt hatte) in die Ermittlungen eingebracht. 1961 belastete dann aber die Tochter der Brühne ihre Mutter bei einer polizeilichen und einer richterlichen Vernehmung erheblich: Die Mutter habe ihr gestanden, dass sie gemeinsam mit Ferbach die beiden Menschen getötet habe, sagte sie aus. An dieser Stelle kommt Nils von der Heyde ins Spiel.
Vor Gericht widerrief die Tochter ihre Aussage nämlich. Und erklärte laut Urteil (LG München – Schwurgericht 7 Ks 1/62):
„Sie habe sich auch durch den Reporter von der Heyde vor ihrer richterlichen Aussage unter Druck gesetzt gefühlt. Dieser habe ihr immer wieder von dem Morfall in Pöcking erzählt und auch gesagt, dass sie (die Zeugin) sich einer Begünstigung schuldig mache. Als die Polizei am 9. November 1961 zu ihr gekommen sei, habe ihr der Kriminalbeamte Schillinger die ganze Geschichte erzählt und sie habe nur zu allem „ja“ gesagt“.
Zwar erklärt das Schwurgericht in seinem Urteil durchaus nachvollziehbar, weshalb die Richter die Aussage der Tochter trotzdem für zutreffend hielten – und dass sie wohl mehr als nur „ja“ gesagt habe. Die Schilderungen werfen aber ein interessantes Licht auf die Rolle des damaligen Abendzeitungs-Reporters Nils von der Heyde: Er hat offenkundig massiv in das Geschehen eingegriffen. Das ist an sich schon fragwürdig.
Vor Gericht trat er als Zeuge auf. Und berichtete dabei auch ausführlich über seine Recherche-Gespräche mit der Tochter. Im Urteil heißt es dazu:
[Nils vdH] „Bei ihm handelt es sich um einen früheren Schulfreund aus den Internatsjahren in Berg. Im Jahr 1961 hat von der Heyde die Zeugin öfters besucht und sich eng mit ihr angefreundet. Er war damals Reporter der Abendzeitung und erschein auch an dem Tag bei ihr, als er von der Verhaftung der Angeklagten Brühne erfuhr. Er habe – so bekundet von der Heyde nach entlastendem Material für die Angeklagte Brühne gesucht und dies auch [der Tochter] gesagt. Diese habe ihm daraufhin von den näheren Umständen der Verhaftung ihrer Mutter und von Dr. Praun erzählt, was ein Anlass für ihn gewesen sei, einen Bericht für die Zeitung zu schreiben, in dem die Täterschaft der Angeklagten angezweifelt wurde. In der Folgezeit suchte vdH die Tochter der Angeklagten fast jeden Tag auf und drang in sie, ihm alles zu berichten, was sie über ihre Mutter wisse, da er sonst nichts Entlastendes mehr schreiben könne. Etwa am 18. Oktober 1961, so erklärte der Zeuge, habe [die Tochter] ihm dann plötzlich spontan gesagt: „Niels, Du liegst völlig falsch; meine Mutter hat mir alles erzählt. Sie hat die Tat zusammen mit Ferbach aus privaten und finanziellen Gründen begangen. “ Daraufhin habe sie ihm den Tathergang in allen Einzelheiten geschildert. Das Gericht sah keinen Anlass, an der glaubhaften und beeidigten Aussage des Zeugen zu zweifeln.“
Dieser Sachverhalt wirft eine Menge ethischer Fragen auf: Wie weit darf ein Reporter gehen? („Witwenschütteln“ heisst das Beeinflussen von Angehörigen und Opfern bei Boulevardreportern) Wie sehr darf er selbst den Lauf der Dinge beeinflussen? (eigentlich gar nicht) Und was davon darf / muss er vor Gericht offenbaren?
Der weiteren Karriere von von der Heyde hat sein Agieren im Fall Brühne jedenfalls nicht geschadet. Nach der Abendzeitung ging es über die „Quick“ zum SPIEGEL, dann wurde er Chefreporter bei BILD und Chefredakteur der Hamburger Morgenpost. In seiner Zeit bei BILD soll der Kontakt zu Verfassungsschützer Lochte begonnen haben. Angeblich habe man auch über ein gemeinsames Buch über die RAF gesprochen.
Mich wundert dabei, dass von der Heyde mit „Sola“ einen Decknamen zitiert, von dem sonst niemand spricht. Und dass ausgerechnet ein Abteilungsleiter des Hamburger Verfassungsschutzes kurz nach dem Mord in Karlsruhe mehr wissen will als alle anderen. Und schließlich, warum von der Heyde in dieser ganzen Zeit kein Wort über seine Erkenntnisse zum Mordfall Buback gesagt / geschrieben hat. Nicht nach der Festnahme von Verena Becker, nicht nach den Urteilen gegen Folkerts und Klar / Mohnhaupt (in denen Verena Becker ja nicht als Mittäterin erwähnt wird), nicht nach der Begnadigung Beckers 1989. Warum? Aus Loyalität gegenüber seinem Informanten Lochte? So wird er es wohl morgen begründen. Und einen großen Auftritt wird von der Heyde bekommen – ganz egal, ob es ihm darum geht oder nicht.
schreibt am 19. August 2011 11:51 :